Paul Auster: Die Brooklyn Revue (47)
Ich hab’s mir anders überlegt.“„Wir sind also den ganzen Weg umsonst gefahren.“
„Nicht direkt. Sieh dich um, Tom. Wir sind im Paradies gelandet. Ein paar Tage Ruhe und Entspannung, und dann fahren wir wie neugeboren nach Hause.“
Lucy, nur drei Meter von uns entfernt, hört jedes Wort unseres Gesprächs mit. Als ich mich nach ihr umdrehe, wirft sie mir mit beiden Händen Kusshände zu - küsst sich schmatzend die Fingerspitzen und schwingt die Arme nach vorn wie eine gefeierte Hauptdarstellerin nach der Premiere. Es macht mich glücklich, sie so glücklich zu sehen, aber es macht mir auch Angst. Habe ich überhaupt eine Vorstellung davon, auf was ich mich da einlasse?
Plötzlich denke ich an einen Spruch aus einem Film, den ich Ende der Siebziger gesehen habe. Der Titel fällt mir jetzt nicht ein, auch die Handlung und die Figuren sind mir entglitten, aber die Worte habe ich noch im Ohr, als hätte ich sie erst gestern gehört. „Kinder sind ein Trost für alles - außer dafür, Kinder zu haben.“
Als Stanley uns im Obergeschoss unsere Zimmer zeigt, erklärt er, dass Peg, die verstorbene Mrs. Chowder („seit vier Jahren ist sie jetzt tot“), die Möbel ausgesucht hat, die Bettbezüge, die Tapeten, die Jalousien, die Läufer, die Lampen, die Vorhänge und jeden einzelnen der vielen kleinen Gegenstände, die auf allen Tischen, Nachttischen und Kommoden zu sehen sind: die Spitzendeckchen, die Aschenbecher, die Kerzenhalter, die Bücher. „Eine Frau von untadeligem Geschmack“, sagt er. Auf mich freilich wirkt das Dekor übertrieben prätentiös, wie der nostalgische Versuch, die Atmosphäre eines untergegangenen New England wiederherzustellen, das in Wirklichkeit viel strenger und kärglicher gewesen war als die lieblichen, mädchenhaft eingerichteten Zimmer, die ich jetzt betrachte. Aber egal. Alles ist sauber und gemütlich, und in all diesem aufdringlichen Kitsch und Kinderkram bemerke ich doch auch etwas Versöhnliches: die Bilder an den Wänden.
Im Gegensatz zu dem, was man erwarten könnte, hängen dort keine Stickmuster, keine dilettantischen Aquarelle von verschneiten Vermont-Landschaften, keine Reproduktionen von Currier und Ives. Die Wände sind bedeckt mit zwanzig mal dreißig Zentimeter großen Schwarzweißfotos von alten Hollywood-Komikern. Sie sind das Einzige, was Stanley zu diesen Zimmern beigetragen hat, und doch macht dieses Element von Witz und Leichtigkeit in dieser ansonsten gesetzten Umgebung den ganzen Unterschied aus. Von den drei Zimmern, die er für uns vorbereitet hat, ist eins den Marx Brothers gewidmet, ein anderes Buster Keaton und das letzte Laurel und Hardy. Tom und ich gewähren Lucy den Vortritt, und sie entscheidet sich für Stan und Ollie am Ende des Flurs. Tom nimmt Buster, und ich lande zwischen Groucho, Harpo, Chico, Zeppo und Margaret Dumont.
Erste Prüfung des Geländes. Sobald wir unsere Koffer ausgepackt haben, gehen wir nach draußen, um uns Stanleys berühmten Rasen anzusehen. Minutenlang bin ich den verschiedensten Sinneseindrücken ausgesetzt. Das weiche, gepflegte Gras unter meinen Füßen. Das Summen einer Pferdebremse an meinem Ohr. Der Duft des Grases. Die Düfte von Geißblatt und Flieder. Die leuchtend roten Tulpen, die um das ganze Haus herum gepflanzt sind. Die Luft gerät in Schwingung, und gleich darauf weht mir ein leichter Wind übers Gesicht.
Ich wandle neben meinen drei Gefährten und dem Hund und hänge absurden Gedanken nach. Stanley erklärt, das Grundstück sei vierzig Hektar groß, und ich stelle mir vor, wie einfach es wäre, hier noch mehr Häuser zu bauen, falls die Bewohnerschaft des Hotels Existenz einmal die Kapazität des Hauptgebäudes sprengen sollte. Ich träume Toms Traum und schwelge in den Möglichkeiten. Fünfundzwanzig Hektar Wald. Ein Teich. Ein verwahrloster Obstgarten mit Apfelbäumen, eine Kollektion verlassener Bienenstöcke, im Wald eine Hütte, in der Ahornsirup gemacht wird. Und das Gras von Stanleys Rasen das herrliche Gras, das sich endlos in alle Richtungen erstreckt.
Es wird nie geschehen, sage ich mir. Harrys Plan muss scheitern, und selbst wenn nicht: Warum sollte ich annehmen, dass Stanley sein Haus verkaufen würde? Andererseits: Was, wenn Stanley bleibt und sich an unserem Unternehmen beteiligt? Ist er womöglich imstande zu begreifen, was Tom zu erreichen hofft? Ich komme zu dem Schluss, dass ich ihn erst noch besser kennen lernen, dass ich so viel Zeit wie möglich in seiner Gesellschaft verbringen muss.
Nach etwa zwanzig Minuten gehen wir wieder zum Haus zurück. Stanley eilt in die Garage und trägt Liegestühle herbei, und als wir uns niedergelassen haben, entschuldigt er sich und verschwindet im Haus. Er hat noch zu arbeiten, aber die ersten zahlenden Gäste in der Geschichte des Chowder Inn können in der Sonne faulenzen, solange sie wollen.
Ich sehe Lucy zu, die auf dem Rasen herumläuft und dem Hund Stöckchen wirft. Links von mir sitzt Tom und liest ein Theaterstück von Don DeLillo. Ich schaue in den Himmel und studiere die vorüberziehenden Wolken. Ein Falke schwenkt ins Blickfeld und verschwindet. Als er wiederkehrt, schließe ich die Augen. Binnen Sekunden bin ich fest eingeschlafen.
Um siebzehn Uhr der erste Auftritt von Honey Chowder. Sie hält vor dem Haus, das Auto voll mit Lebensmitteln und zwei Kisten Wein. Inzwischen sind Tom und ich von den Liegestühlen auf die Veranda gewechselt und sprechen über Politik. Wir unterbrechen unsere Schmähreden auf Bush II und die Republikaner, gehen die kleine Treppe zu dem weißen Honda hinunter und stellen uns Stanleys Tochter vor.
Sie ist groß gewachsen, hat Sommersprossen im Gesicht, kräftige Oberarme und einen mörderischen Händedruck. Sie ist außerordentlich selbstbewusst, humorvoll und aufmerksam. Vielleicht ein wenig arrogant – aber was kann man von einer Grundschullehrerin schon erwarten? Ihre Stimme ist laut und etwas heiser, aber es gefällt mir, dass sie gern zu lachen scheint und furchtlos mit der Größe ihrer Person umzugehen vermag. Ein patentes Mädchen, denke ich, und zweifellos auch gut im Bett.
Nicht hübsch, aber auch nicht unhübsch. Strahlend blaue Augen, volle Lippen, eine dichte Mähne rötlich blonden Haars. Als wir ihr helfen, die Einkaufstüten aus dem Kofferraum zu laden, bemerke ich, dass sie Tom mit etwas mehr als distanzierter Neugier beobachtet. Der Trottel bekommt nichts davon mit, aber ich beginne mich zu fragen, ob diese energische, gescheite junge Frau nicht die Antwort auf meine Gebete sein könnte. Schluss mit der ätherischen S. p. M., hier haben wir eine unverheiratete Frau, die darauf aus ist, sich einen Mann zu angeln. Eine Dampfwalze. Ein Tornado.
»48. Fortsetzung folgt