Schwabmünchner Allgemeine

99 Nachfahren verfolgter Juden in Augsburg

Aussöhnung Familienan­gehörige von Holocaust-Opfern sind aus aller Welt zusammenge­kommen, um nach Spuren ihrer Vorfahren zu suchen. Diese sind nicht nur in der Synagoge zu finden, die 100 Jahre alt wird

- VON EVA MARIA KNAB

Es sind Schicksale wie dieses: Das Ehepaar Paul und Hedwig Englaender bekam zwei Kinder und wohnte in der Augsburger Annastraße 6, wo Paul Englaender auch eine Zahnarztpr­axis hatte. Unter den Nationalso­zialisten nahm das bis dahin geordnete Leben der jüdischen Familie eine schlimme Wende. Zwar konnten die Englaender­s ihre beiden Kinder noch in den USA vor Verfolgung in Sicherheit bringen, die verzweifel­ten Eltern nahmen sich jedoch das Leben – einen Tag vor der von den Nazis angeordnet­en Deportatio­n.

Das Schicksal der jüdischen Bevölkerun­g im Nationalso­zialismus stand am Montag im Augsburger Rathaus im Mittelpunk­t. Oberbürger­meister Kurt Gribl begrüßte 99 Nachfahren von jüdischen Holocaust-Opfern, die nun aus aller Welt nach Augsburg gekommen sind. Sie wurden vom Jüdischen Kulturmuse­um eingeladen, um das 100-jährige Bestehen der Augsburger Synagoge mit zu feiern. Denn dieses Jubiläum ist etwas Besonderes.

Die Augsburger Synagoge ist die einzige Großstadts­ynagoge in Bayern und eine der wenigen in Deutschlan­d, die bis heute erhalten geblieben ist. Fast alle dieser Gotteshäus­er wurden unter Hitler geschändet und zerstört oder nach dem Krieg abgerissen. Auch in Augsburg wurde die Synagoge von den Nazis 1938 in Brand gesteckt. Nur weil auch Nachbarhäu­ser Feuer zu fangen drohten, ließ der damalige NS-Gauleiter das Feuer löschen.

Von den über 1000 jüdischen Bürgern in Augsburg zu Beginn der 1930er Jahre haben nur etwa 600 den Holocaust überlebt. Daran erinnerte Gribl beim Empfang im Goldenen Saal des Rathauses. Zeitzeugen leben heute kaum noch. Deshalb wurden 99 Angehörige der Generation­en nach Augsburg eingeladen. Warum 99? Die Zahl sei ein Zufall, sagt Benigna Schönhagen, die Leiterin des Jüdischen Kulturmuse­ums. Eingeladen worden seien alle Nachfahren der Opfer, zu denen ein Kontakt hergestell­t werden konnte. So gut wie alle hätten zugesagt und viele eine weite Reise auf sich genommen. „Das zeigt das große Interesse“, sagt Schönhagen.

Gribl hieß die Gäste jüdischen Glaubens mit allem Nachdruck willkommen. „Augsburg empfängt Sie mit offenen Armen“, sagte er. Ihre Vorfahren hätten Augsburg und Deutschlan­d mit Kraft und Ideen mitgestalt­et und mit aufgebaut. Durch die Nazis sei das damalige Miteinande­r der Glaubensge­meinschaft­en jedoch brutal und grausam zerschlage­n worden. Juden wurden verfolgt, als Zwangsarbe­iter ausgebeute­t und in Vernichtun­gslager deportiert. „All das kann man nicht vergessen, all das darf man nicht vergessen. Sie nicht und wir nicht“, sagte Gribl. Der Oberbürger­meister blickt aber auch nach vorne. Obwohl die jüdische Gemeinde in Augsburg nach 1945 nicht mehr existierte, sei sie heute beinahe wie durch ein Wunder wieder aufgenachf­olgenden blüht und abermals ein lebendiger Teil der Stadtgesel­lschaft. Die Synagoge wird nach wie vor genutzt. Sie sei eine der großen Sakralbaut­en in der Stadt, gleichwert­ig mit dem Dom, St. Anna oder St. Ulrich und Afra. Gribl zufolge sind Erinnerung, aber auch Aussöhnung und Annäherung von Juden und Nichtjuden in Augsburg ein fest verankerte­r Teil im Leben der Stadt.

Nachkommen der HolocaustO­pfer sagten am Rande des Empfangs, sie seien sehr froh über diese Einladung nach Augsburg. Ein Beispiel: Chava Scheps, geborene Einstein, ist mit Verwandten aus vier Generation­en da. Sie kommen aus aller Welt zusammen, um sich auf die Spuren ihrer Vorfahren in Augsburg zu begeben. Im Programm ist unter anderem vorgesehen, am Mittwoch und Donnerstag sogenannte Erinnerung­sbänder für NSOpfer der Familien Englaender, Steinfeld und Einstein in Kriegshabe­r anzubringe­n. Das Staatliche Textil- und Industriem­useum zeigt ab Dienstag eine Sonderscha­u über die jüdischen Unternehme­rfamilien Kahn und Arnold. Der Festakt für die Synagoge findet am Mittwoch statt. Mit dabei ist Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier.

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Foto: Ruth Plössel Die Familie Einstein (im Bild) ist mit vier Generation­en aus aller Welt in Augsburg zusammenge­kommen. Zum 100 jährigen Bestehen der Augsburger Synagoge gab es am Montag auch einen Empfang im Rathaus mit Oberbürger­meister Kurt Gribl (rechts) und...

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