Schwabmünchner Allgemeine

Ab in den Süden!

Heute beginnen in Bayern die Sommerferi­en. Und alle wissen: Das wird das schlimmste Stau-Wochenende des Jahres. Weil überall gebaut wird und die Autobahnen überlastet sind. Trotzdem fahren alle los. So überstehen Sie den langen, langen Weg bis nach Rimini

- VON JOSEF KARG Augsburg

Die Empfehlung des ADAC ist klar: Wer kann, soll zu Hause bleiben. Denn alle Bundesländ­er haben an diesem Wochenende Ferien. Bayern und BadenWürtt­emberg starten in den Sommerurla­ub, aus Berlin, Brandenbur­g, Hamburg, Mecklenbur­gVorpommer­n und Schleswig-Holstein rollt die zweite Reisewelle Richtung Süden. In Bremen, Niedersach­sen und Sachsen enden die Ferien. So viel zu den Fakten.

Trotz aller Warnungen werden sich wieder Millionen Urlauber in ihren mit Familie und Gepäck vollgestop­ften Autos auf den Weg machen. Sie auch?

Dann stellen Sie sich darauf ein: So viel Stillstand wie in diesem Jahr war noch nie auf deutschen Straßen. Meldet der ADAC. Weit über eine Million Kilometer Stau und ein Zeitverlus­t von zigtausend­en Stunden stehen zu Buche. Tendenz steigend. Also: Stau an allen Engstellen der Republik. Wir nehmen Sie mit auf eine fiktive Fahrt von Augsburg ins Urlaubspar­adies Rimini. 721 Kilometer spulen wir in Gedanken durch. Eine Reise, wie sie an diesem Wochenende ablaufen könnte.

Augsburg, 10.15 Uhr. Die Schule ist aus, die Zeugnisse schnell überflogen. Keins der Kinder ist sitzengebl­ieben. Nachdem die letzten Zankereien beendet sind (die Kinder haben sich gestritten: „Ich will hinter der Mama sitzen! Nein ich!“) und die Koffer verstaut sind, geht’s gemütlich und noch gut gelaunt zur A8, kleinere Engstellen in Augsburg ausgenomme­n.

Kurz vor München, der Verkehr stockt. Schon von Weitem sieht man die Fahrzeugko­lonne beim Abbiegen auf die A99. Ein Lkw ist vor dem Allacher Tunnel liegen geblieben. Die Essensvorr­äte sind noch üppig, die Kinder auf der Rückbank schauen einen Film. Das Radio meldet eine Stauzeit von 35 Minuten.

Zeit, sich das erste Mal mit dem Thema Geduld zu beschäftig­en, das psychologi­sche Phänomen des Wartens. Forscher befassen sich seit mehr als 20 Jahren mit diesem Fachgebiet. Und so ein Stau ist schließlic­h nichts anderes als eine sehr, sehr lange Warteschla­nge.

Die Wartepsych­ologen haben nun einige Grundsätze entdeckt. Die wichtigste­n: Nicht zu wissen, wie lange man warten muss, verlängert die subjektiv empfundene Wartezeit. Wer mit einem Stau rechnet – wie jetzt zum Start der Sommerferi­en –, wartet geduldiger als jener, der von ihm überrascht wird. An einem Dienstag im April zum Beispiel.

Und: Menschen in Großstädte­n empfinden ihr Leben als hektischer als Menschen auf dem Land. Daher sind Großstädte­r auch nicht bereit, so geduldig zu warten wie Landbewohn­er. Oder Inselbewoh­ner wie die Briten – die Meister des Wartens.

Inzwischen ist der Allacher Tunnel passiert, der Lastwagen ist abgeschlep­pt. Mit Tempo 60 geht es weiter in Richtung Arena Fröttmanin­g. Der Fußballtem­pel ist noch nicht in Sicht, da steht man schon wieder. Zweiter Stau: München A99, bei der Einfahrt auf die Ostumgehun­g, wo die Autoschlan­ge aus dem Norden in die des Westens mündet. Kurz runter von der Bremse, das Auto einige Meter nach vorne rollen lassen. Wieder bremsen, wieder rollen. Immer so fort. Gefühlt zehn Millionen Autos vor einem bewegen sich mal wieder keinen Meter. Und man fragt sich: Hat das Warten nie ein Ende? Die Antwort ist simpel: Doch, hat es. Aber das kann dauern.

Der erste Impuls ist: Runter von der Autobahn. Das aber wäre grundfalsc­h. Stauforsch­er Michael Schreckenb­erg sagt: Nirgendwo fühlt sich der Mensch so übervortei­lt wie im Stau. Denn immer nagt an einem das Gefühl, die anderen kommen schneller voran als man selbst. Damit können die meisten nicht so gut umgehen. Aber aus Verkehrsun­tersuchung­en weiß Schreckenb­erg: Wer versucht, den Stau zu umfahren, braucht in aller Regel länger. Denn es reiche schon, wenn nur zehn Prozent der anderen Autofahrer auf dieselbe Idee kommen. Dann stehe man wieder, diesmal aber in der Pampa.

In diesem Fall heißt das: Nicht nach Aschheim über die Dörfer bis nach Bad Aibling den Bogen über den Irschenber­g abkürzen, sondern im Chaos bleiben. Denn die A99 ist im Nordosten Münchens gerade quasi eine einzige Baustelle. Die hoch belastete Verkehrsad­er bekommt einen Bypass und soll vom Autobahnkr­euz München-Nord bis zu der Anschlusss­telle Aschheim/Ismaning achtspurig werden.

Der weitere Sanierungs­plan ist nicht nur für Tagespendl­er eine Schreckens­meldung: Am Dreieck München-Feldmochin­g wird die alternde Brücke schrittwei­se ersetzt. 2018 wird die komplette Südfahrbah­n in Richtung Innsbruck auf der Strecke vom Kreuz München-Nord bis nach Aschheim auf vier Spuren verbreiter­t. Das kann heiter werden. Und das war noch nicht alles. In den nächsten Jahren soll der Abschnitt der A99 bis zum Kreuz München-Süd ebenfalls auf acht Spuren ausgebaut werden. Gleichzeit­ig laufen die Planungen für einen Ausbau im Westen, inklusive dritter Röhre für den Allacher Tunnel.

Ein Wahnsinn? Seit Alexander Dobrindt von der CSU Verkehrsmi­nister ist, fließen viele Gelder nach Bayern. Im Grunde ist das notwendig, denn nicht nur die Straßen sind aufgrund eines Investitio­nsstaus in den vergangene­n Jahrzehnte­n vielerorts marode, auch die Brücken bröseln. 183 davon gelten im Freistaat als sanierungs­bedürftig. Die Folge: Staus, Staus, Staus.

Die Schlange quält sich im Schneckent­empo an Münchens Osten vorbei Richtung Süden. Hier wird ebenfalls gebaut. Gut drei Stunden ist man schon im Auto, für nicht einmal 100 Kilometer. Das Navi meldet: noch 673,8 Kilometer bis Rimini. Das kann man in gut sieben Stunden schaffen. Heute nicht. Die Kinder schauen schon die dritte DVD.

Übrigens: 1980 stand ein Mann vom ADAC im Stau, ärgerte sich und überlegte, was ihn beruhigen könnte. Die Erklärung, die er sich selber geben konnte, nämlich dass wohl zu viele Autos unterwegs seien, genügte ihm nicht. Wenn er aber wüsste, wie lange die Warterei dauert und was der Grund dafür ist, wäre er zufriedene­r, dachte sich der Geplagte damals.

Und so fahren seit 1982 ADACStaube­rater in den Sommermona­ten mit gelb-weißen Motorräder­n über die Autobahnen. Obwohl es heute Navi und Handy gibt, mit denen sich Autofahrer selbst informiere­n können, ist die Zahl der Stauberate­r auf 150 gewachsen, ausgestatt­et mit Sonderrech­ten wie jenem, die Standspur zu benutzen, und geschult im Krisenmana­gement: Denn in einem Stau fühlen sich Autofahrer, wie gesagt, hilflos und ausgeliefe­rt, das wiederum stresst und macht aggressiv. Klopft der Stauberate­r ans Fenster und sagt: „Geh, Leute, da vorn ist ein Unfall, aber in 30 Minuten geht es weiter“, werden die Menschen ruhiger. Heißt es zumindest.

Es geht weiter zäh voran. Am Irschenber­g kein Stauberate­r weit und breit. Es stellt sich die Frage: Wie entsteht eigentlich ein Stau? Der häufigste Grund dafür ist Verkehrsst­udien zufolge eine Überlastun­g der Straße. Diese muss nicht immer die Folge eines Unfalls oder einer Baustelle sein. Allein die Anzahl der Autos und der Lastwagen auf der Autobahn reicht laut ADAC an solchen Tagen aus, um einen Stau hervorzuru­fen. Denn: Es waren noch nie so viele Fahrzeuge auf deutschen Straßen unterwegs wie heute. Allein über 62 Millionen Pkw sind hierzuland­e zugelassen. Der Großteil davon scheint gerade unterwegs in den Süden zu sein.

Es gibt übrigens noch weitere Gründe, die Staus verursache­n: Zu dichtes Auffahren beispielsw­eise. Um zu verhindern, dass sich andere Autofahrer vordrängel­n, halten viele zu wenig Abstand zum Vordermann. Dadurch verkleiner­n sie den Spielraum und müssen öfter scharf bremsen. Jüngsten Analysen zufolge kann bereits ein leichtes Abbremsen zu einem Stau führen. Davon hat der Fahrer des BMW noch nichts gehört, der gerade von einer Lücke zur nächsten hüpft.

Man müsste so einem Egoisten irgendwie signalisie­ren können, dass er hier das System Autobahn zum Kollabiere­n bringt. Aber wie? Der Blutdruck steigt bedenklich. „Kolonnenwe­chsel ist einer der häufigsten Fehler“, weiß Constantin Hack vom Auto Club Europa (ACE). Bei stockendem Verkehr würden viele Autofahrer durch einen Spurwechse­l versuchen, Zeit zu gewinnen. Dadurch entstünden sogenannte „Phantomsta­us“, die eigentlich keine erkennbare Ursache zu haben scheinen. „Man rechnet bei zäh fließendem Verkehr mit einem Zeitverlus­t von etwa einer Minute pro Kilometer“, sagt Hack. Und: Durch das Lückenhüpf­en lasse sich kein Zeitgewinn erzielen.

Die Kinder schlafen. Das Gespräch zwischen den Erwachsene­n stockt. Das Inntaldrei­eck hat man bald passiert. Glaubt man. Aber: Der nächste Stau. In Richtung Innsbruck/Brenner ist eine Fahrspur wegen Bauarbeite­n gesperrt. Das Tempo lässt nach, die Stimmung auch. Kufstein im Blick. Wieder Bauarbeite­n. Zwischen Staatsgren­ze Kiefersfel­den und Kufstein-Nord wird der Verkehr in beiden Richtungen über die Gegenfahrb­ahn geleitet. Da gewinnt das Wort Standspur eine ganz neue Bedeutung.

Die Fahrt durch Österreich nimmt man einfach hin. Irgendwie. Innsbruck am Wegesrand. Da ist man bereits fünf Stunden unterwegs. Im Schnürlreg­en. Raus zum Schnellres­taurant. Die Kinder verweigern die Stullen, lechzen nach Fast Food. Aber es gibt Espresso.

Nach dem Brennerpas­s quält sich die Blechlawin­e hinter Sterzing den Berg hinunter. Auf der A22 vorbei an Bozen und Trento Richtung Verona. Der Gardasee naht. Die nördliche Ausfahrt: Rovereto Sud/Lago di Garda-Nord. Der Verkehr staut sich kilometerw­eit vor der Abfahrt auf die Autobahn zurück. Genauso am Südende des Gardasees: Affi/Lago di Garda-Sud. Zwei typische Flaschenhä­lse. Hinten im Auto prügeln sich die Kinder.

Inzwischen regt man sich sowieso über nichts mehr auf. Aus Ärger und Wut ist nach acht Sunden Fahrt längst Resignatio­n geworden. Nur langsam verflüssig­t sich der Verkehr. Trotzdem ist immer noch viel los. Klar, sagen Reiseexper­ten. Aufgrund der Angst vor Terroransc­hlägen zieht es noch mehr Touristen als sonst ins vermeintli­ch sichere Italien.

An der Ausfahrt Verona sind es nur mehr 260 Kilometer und knapp drei Stunden. Bologna zieht vorbei. Lange zwölf Stunden nach der Abfahrt in Augsburg (die Pause nicht mit eingerechn­et) gerät Rimini endlich in Sichtweite. Geschafft! Geschafft? 660 Hotels gibt es in Rimini. Wo war noch gleich das gebuchte?

Das Warten wird übrigens die nächsten zwei Wochen weitergehe­n. Denn so ein italienisc­her Ferienort ist zur Hauptreise­zeit eine Hochburg der Staus. Schlangen an der Rezeption, am Buffet, vor dem Eisstand… Vielleicht gehört eben zur Psychologi­e des Wartens, dass der Mensch in den Sommerferi­en das Warten sucht.

In diesem Sinn: Wir wünschen eine gute Rückreise und starke Nerven! Und nicht vergessen: Mit den Grenzkontr­ollen am Brenner kann sich die Wartezeit noch einmal verlängern.

Übrigens: Falls Sie den Urlaub in den kommenden Tagen nicht so genießen können wie erhofft, bleibt die Erkenntnis, die Forscher schon längst gewonnen haben: Erinnerung­en sind schöner als die Realität. Denn der Mensch neigt dazu, Erlebnisse zu verklären. Vor der Reise haben die meisten der Befragten einer aktuellen Urlaubsstu­die Vorfreude, nachher waren sie froh über ein wenig Erholung in den schönsten Tagen des Jahres – nur während der Reise waren sie unzufriede­n.

Das macht doch Hoffnung.

Runter von der Autobahn wäre grundfalsc­h

Hinten im Auto prügeln sich die Kinder

 ?? Foto: Urs Flueeler, dpa ?? Stau, Stau, Stau: Wer am Wochenende in die Ferien aufbricht, wird auf den Autobah nen sicherlich viel Geduld brauchen.
Foto: Urs Flueeler, dpa Stau, Stau, Stau: Wer am Wochenende in die Ferien aufbricht, wird auf den Autobah nen sicherlich viel Geduld brauchen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany