Mann, Frau oder sonst etwas?
Im Grandhotel Cosmopolis sondiert Popkultur-Autor Thomas Meinecke den Gender-Dschungel. Warum er zum Schluss kommt, Sexualität sei etwas Ozeanisches
Bei der Foto-Session geben diese Models gern den Mann. Oder die Frau. Oder sie lieben es, ihre sexuelle Identität in der Schwebe zu belassen. Androgynes Verhalten ist angesagt. Fragt man den Popkultur-Autor und Radiomann Thomas Meinecke, 62, spiegelt sich darin eine zunehmende Differenziertheit geschlechtlicher Rollen und Zugehörigkeiten wider. Was nicht nur den aus Amerika befeuerten soziologisch-politischen Diskurs am Laufen hält, sondern auch zu munteren Alltagssituation führt. Beides verflicht Meinecke in seinem feministischen Roman „Selbst“, womit er im Grandhotel Cosmopolis eine größere Hörergemeinde fesselte.
Drei unterschiedliche Frauen spannt der in Oberbayern lebende Autor in einer Frankfurter WG zusammen: Eva, die Moderedakteurin und Kunsthistorikern, Genoveva, die autodidaktische Sexualwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Auto- gynophilie (die selbstverliebte Frau) und Venus, das androgyne Model, die eigentlich Karin heißt. Biografien gönnt Meinecke ihnen nicht, allenfalls jeweils typische Denk- und Verhaltensmuster in einem mal platonischen, mal erotischen Postgender-Liebesreigen. So hatte er es schon vor zwanzig Jahren im Roman „Tomboy“(1998) gehalten, dem Ausgangspunkt seiner popkulturellen Erkundungen, erzählt er der Augsburger Popkulturbeauftragten Barbara Friedrichs. Sie hatte ihn eingeladen zur Eröffnung eines Queer-Wochenendes im Rahmen des Friedensfestprogramms.
Seither weiß Thomas Meinecke: „Sexualität ist etwas Ozeanisches, durch Wiederholung von Tätigkeiten geformt und einhergehend mit minimalen Verschiebungen.“Scheinbar banale Nebensächlichkeiten werden dabei wichtig: Fühlt das androgyne Model Begehren, weil es unter dem maskulinen Outfit Damenunterwäsche trägt? In welche Richtung? Warum findet es der italienische Fotograf völlig undenkbar, dass Andrea ein weiblicher Name sein könnte? Wenn sich zwei androgyne Models verlieben: Liebt sie in männlicher Rolle ihn in weiblicher Was sagt ihr Kuss aus? Warum gibt es massenhaft Frauen, die auf Websites ihre eigene Körperwahrnehmung zelebrieren? Geht es dabei um das Wecken von Begehren oder um die schon erfolgte Erfüllung von Begehren, das sich auf sich selbst richtet? Wie vollständig muss ein transsexueller Mensch von seiner angeborenen Geschlechtlichkeit operativ Abschied nehmen oder geht es auch anders? Wie steht es um unerwünschte Hervorhebung der Geschlechtsorgane bei androgynen Shootings? Wie spricht man Menschen passend auf ihre sexuelle Selbstempfindung an?
Auf die Spur gebracht hat Meinecke die schwule afroamerikanische Kultur in den USA. Hier begegnete er den fließenden Übergängen und verwirrenden Verwechslungen der Geschlechterrollen. Er bezeichnet sich als einen „feministischen AutoRolle? ren“, ästhetisch, philosophisch und politisch motiviert. Er stehe nicht unter eigenem Leidensdruck oder Rechtfertigungszwang: „Mein Terrain ist die Kunst.“Seine Romane seien keine autobiografischen Bücher, jedoch Spiegelflächen realer Dialoge. Und Früchte seiner Lektüre vor allem der amerikanischen Geschlechtertheoretikerin Judith Butler, die radikal hinterfragt, was normal und was unnormal sein sollte, zumal das Normale mit allen möglichen Formen von gesellschaftlicher Gewalt durchgesetzt wird.
Thomas Meinecke versteht sich freilich konsequent als Journalist. Sein Roman „Selbst“sei eine Art direkte Transkription dessen, was Tag für Tag in der Zeitung stand, was Stunde für Stunde im Netz kursierte, was Woche für Woche an neuer Musik erschien. Alles zusammen über zwei Jahre hinweg. Immer ist er neugierig, „wie sich der Groove ausbreitet“. Und ja: Das Weibliche dürfe ruhig etwas mehr in den Vordergrund treten, nachdem die Frauen über Jahrtausende in die zweite Reihe bugsiert worden seien.
472 Seiten, 25 Euro.
Suhrkamp,