Schwabmünchner Allgemeine

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (5)

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Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich

Ich fuhr zurück nach Frankfurt und musste anhalten und aussteigen, weil ich so benommen war. Das gab es also – ein Glück, von dem ich mir nicht hatte träumen lassen, für das es nur diese eine Frau brauchte, ihre Nähe, ihre Stimme, ihre Nacktheit.

Noch hatte sie den letzten Schritt von der Treppe ihres alten Lebens in ein neues Leben nicht gemacht – wenn sie ihn in mein Leben machen würde! Und wenn sie jeden Morgen wieder so in mein Leben treten würde und in meine Arme!

Nachdem der Chef der Detektei mich bis Mittwochab­end nicht angerufen hatte, rief ich ihn am Donnerstag­morgen an. Ein paar Mal vergebens – erst nach zehn erreichte ich eine Sekretärin, die mich mit dem mobilen Telefon des Chefs verband. Ich hatte gedacht, eine gute Detektei hätte eine Zentrale, die rund um die Uhr oder doch vom frühen Morgen an besetzt ist.

„Ich sagte Ihnen, es kann ein paar Tage dauern.“

„Ich muss heute zurück nach Deutschlan­d.“

„Ich habe Ihre Telefonnum­mer. Geben Sie mir auch Ihre E-MailAdress­e? Ich benachrich­tige Sie sofort, wenn ich etwas habe.“

„Soll ich noch mal hierherfli­egen?“

Er lachte. „Das liegt bei Ihnen.“Er lachte behaglich, und ich stellte mir einen älteren Herrn mit Bauch und Glatze vor. Soll ich noch mal hierherfli­egen – was für eine törichte Frage. Ich gab meine E-MailAdress­e an und legte auf. Dann stand ich am Fenster und sah auf den Hafen, das Opernhaus mit den geblähten Segeln aus Beton, die blaue Bucht mit kleinen und großen Schiffen und am Ende der Bucht den grünen Streifen Land, hinter dem das offene Meer lag. Die Sonne schien.

Ich konnte das Frühstück ausfallen lassen, im Restaurant im Botanische­n Garten früh zu Mittag essen und mich danach wieder ins Gras legen. Ich konnte in dem Leder- und Koffergesc­häft, an dem ich unweit des Hotels vorbeigega­ngen war, einen kleinen Rucksack, in der Buchhandlu­ng ein Buch und in der Weinhandlu­ng eine Flasche Rotwein kaufen und lesen und trinken und einschlafe­n und aufwachen.

Ich dachte an den Flug, den ich am Nachmittag nehmen sollte, an die Ankunft am nächsten Morgen, die Fahrt nach Hause, das Aufschließ­en, das Auspacken, das Duschen, die Lektüre der Post im Hausmantel, das Rasieren und Anziehen, die Fahrt in die Kanzlei und die Begrüßung durch das Personal. Ich dachte an die Worte, die ich mit dem Fahrer wechseln würde, seine Frage, ob ich eine angenehme Reise gehabt hätte, und meine, ob in Frankfurt etwas passiert wäre. Ich dachte an die Blumen, die meine Sekretärin auf meinen Schreibtis­ch stellen würde.

Ich dachte an das Ritual des Heimkehren­s, und es machte mich traurig. Ich hatte es all die Jahre getreulich befolgt, und die Jahre selbst waren ein getreulich befolgtes Ritual geworden, Fall um Fall, Mandant um Mandant, Vertrag um Vertrag. Unternehme­nszusammen­schlüsse und -übernahmen – das war, worin ich gut war, wofür die Mandanten zu mir kamen und worum es in den Verträgen ging. Ich hatte über die Jahre die Punkte gelernt, die es zu bedenken, die Fragen, die es zu stellen galt. Ich bedachte immer wieder dieselben Punkte und stellte immer wieder dieselben Fragen. Probleme gab es nur, wenn die andere Seite zu tricksen versuchte. Aber ich hatte auch die Tricks gelernt.

Ich rief den Chef meiner Frankfurte­r Reiseagent­ur an. Es war viel zu spät, ihn im Büro zu erreichen, aber ich erreichte ihn zu Hause. Er könne meinen Flug verschiebe­n, aber nur auf ein anderes Datum. Wann ich denn fliegen wolle? Ich wisse es noch nicht? Dann verlege er ihn einfach um zwei Wochen, er könne ihn jederzeit weiter nach hinten oder wieder nach vorne verschiebe­n. Er wünsche mir eine gute Zeit.

Ich zog den Anzug an, den ich gestern getragen hatte, knittrig und mit Gras- und Erdflecken. Plötzlich machte mir meine Entscheidu­ng, nicht zu fliegen, Angst. Plötzlich erschienen mir die Rituale, denen ich beim Arbeiten und beim Heimkehren und beim Aufbrechen und in meiner Freizeit folgte, als das Einzige, was mein Leben zusammenhi­elt. Wie sollte ich ohne sie leben? Sollte ich – aber ich machte die Verschiebu­ng meines Flugs nicht rückgängig.

Ich konnte den Tag nicht im Botanische­n Garten verbringen, ohne in die Art Gallery zu gehen. Wieder stand ich vor dem Bild, und wieder machte die Frau mich verlegen. Nicht, weil sie nackt war, und nicht, weil sie mich an das erinnerte, was damals geschehen war. Sondern weil ich eine andere sah als die, der ich damals begegnet war und die ich bisher gesehen hatte. Wo hatte ich meine Augen gehabt?

Die Frau kommt auf dem Bild nicht die Treppe herab, um Klavier zu spielen oder Tee zu trinken, und auch nicht, weil ihr Geliebter sie unten freudig erwartet. Sie kommt die Treppe mit geneigtem Kopf und niedergesc­hlagenen Augen herab, als werde sie dazu gezwungen, habe sich aber dareingesc­hickt. Als habe sie widerstand­en, den Widerstand aber aufgegeben, weil der, der Gewalt über sie hat, zu mächtig ist. Als könne sie nur noch mit Sanftmut, Verführung und Hingabe um Schonung werben.

Wobei sie gewärtigen muss, einfach genommen zu werden. Oder möchte sie das sogar? Ohne es dem anderen oder auch nur sich selbst einzugeste­hen?

Ich habe einmal in einem Museum Bilder des neunzehnte­n Jahrhunder­ts von weißen Sklavinnen in arabischen oder türkischen Harems gesehen. Säulen, Marmor, Polster, Fächer, die Frauen nackt, in lasziver Haltung und mit unergründl­ichen Augen.

Kitsch, fand ich. War auch die Frau, die die Treppe herab- und mir entgegenka­m, Kitsch? Ich weiß es nicht. Das Durcheinan­der von Gewalt und Verführung, Widerstand und Hingabe machte mich verlegen. Es war kein Terrain, auf dem ich Frauen jemals begegnet bin. Es passte nicht zu dem, wie ich Irene Gundlach damals erlebt hatte. Oder hatte ich damals alles falsch verstanden?

Ich mochte nicht darüber nachdenken. Zum Glück hatte ich das Buch und den Rotwein dabei. Ich lese keine Romane, sondern Bücher über Geschichte. Was wirklich geschehen ist, ist doch etwas anderes, als was Menschen sich ausdenken. Wenn wir von der Geschichte lernen, lernen wir von der Wirklichke­it, nicht von manchmal genialen, oft albernen Hirngespin­sten.

Und wer meint, Romane seien farbiger als Geschichte, strengt seine Phantasie nicht an und stellt sie sich nicht vor: Cäsar, der Brutus wie einen Sohn liebt und von ihm erdolcht wird, die Azteken, die von den Krankheite­n der Weißen heimgesuch­t und dezimiert werden, ehe sie ihnen im Kampf begegnen, die Frauen und Kinder, die im Gefolge von Napoleons Armee beim Übergang über die Beresina in den Schnee getrampelt oder ins eisige Wasser gestoßen werden.

»6. Fortsetzun­g folgt

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