Jürgen Vogel als Ötzi – preiswürdig?
Kino „Iceman“ist ein mutiger Film, der ohne Sprache ins Leben unserer Vorfahren führt – aber bei weitem nicht das einzig spannende Projekt im Jubiläums-Wettbewerb von Locarno
Locarno Endlich erfahren wir die ganze Geschichte – dachte man in Erwartung des Filmdramas vom „Iceman“. Dass den Steinzeitmenschen, der nach 5300 Jahren mumifiziert wieder das Licht der Welt erblickte, ein tödlicher Pfeil getroffen hatte und womöglich noch ein Hieb mit dem Beil, ließ auf wüste Kämpfe schließen. Ein Wunder, dass dieses Urdrama so lange warten musste, bis es auf die Leinwand kam.
Der deutsche Regisseur Felix Randau, der sich selbst als „Flachlandtiroler“bezeichnet, malt in seinem Breitwandstreifen ein archaisches Urdrama und führt gleich mitten hinein in die grausame Urzeit. Jürgen Vogel als den Mann aus dem Eis hätte man in seinem fantastischen Fellkostüm und der glaubhaften Maske mit dem zugewachsenen Gesicht und der hohen Stirn kaum erkannt. Den Rest an Realismus schafft die Kamera – stets bewegt und mittendrin im Geschehen – es muss Schwerstarbeit für den Kameramann Jakub Beinarowicz („Im Eis“, gleichfalls mit Jürgen Vogel) gewesen sein. Vieles wurde an einem Stück gedreht, am Ort des Geschehens, aber auch in der Garmischer Partnachklamm.
Der Film will ohne Sprache funktionieren, die nachempfundenen Urlaute bleiben unverständlich, die Geschichte von Blutrache, Verfolgung, Mord und Vergewaltigung teilt sich trotzdem mit – und ist bis zuletzt spannend. Schöne Zusatzerfindungen: die religiösen Anrufungen des (wohl) Stammesfürsten und Priesters, der lange ein gerettetes Baby mit sich führt. Insgesamt: nichts für schwache Nerven.
Und noch einen Bergfilm hatten die Deutschen in Locarno beim Jubiläumsfestival für die Großleinwand im Gepäck im Gepäck: „Drei Zinnen“von Jan Speckenbach. Ein sanfter Film diesmal, und sehr feinfühlig psychologisch. Eine Patchwork-Familie ist auf eine Berghütte gezogen, wo der neue Freund das Herz des kleinen Sohnes gewinnen will. Beide kommen, wie der Film selbst, irgendwann vom Wege ab. Zuletzt gelingt es dem Freund, unter dem Gipfel der „Drei Zinnen“das Kind zu retten, er selbst bleibt im ewigen Schnee zurück. „Drei Zinnen“hat, bei aller Skepsis, auch viel Heiterkeit, für die vor allem der kleine Junge (Arian Montgomery) sorgt. Und noch ein deutscher Film, diesmal im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden, der bekanntlich noch immer im Wesentlichen jüngeren Autorenfilmern vorbehalten ist. Das Gesicht der Johanna Wokalek, die in „Freiheit“die Familie verlässt und auf eine unbestimmte, endgültige Reis geht, vergisst man nicht so leicht. Es ging nicht mehr mit Mann und Kind, zu stark wurde die Routine, sie führte in die Depression.
Ein Film, der es schwer haben wird unter den Mitkonkurrenten. „Lucky“, eine Hommage an den 90-jährigen Harry Dean Stanton („Paris – Texas“), lässt den Schauspieler in einem Kaff an der kalifornischen Wüste eine letzte Runde drehen. John Carrol Lynch, selbst altgedienter Schauspieler, führt Stanton mit unglaublich leichter Hand. Mehrfach gab es Nachfragen, ob Stanton tatsächlich so lebe wie der lebensweise Alte, ein Vielraucher und Bewunderer des Präsidenten Roosevelt, unter dem er im Pazifik im Weltkrieg gedient hat. Die palästinensisch-deutsch-französische Koproduktion „Wajib“(„Plich“) hat beste Aussichten auf einen Preis. Die Regisseurin Annemarie Jacir gewinnt ihren Hochzeitsvorbereitungen im geteilten Nazareth viele tragikomische Seiten ab. Viele sind fort, manche sind geblieben, sie haben sich, wie der Vater, ein alter Lehrer, ganz einfach angepasst.
Auch beim 70. Jubiläum hatten es die Macher nicht leicht, wirklich große Piazza-Filme zu finden, man musste sie schon mit der Lupe suchen. Doch die Akteure der „besonderen Ehrungen“machten das auf der Piazza-Bühne wieder wett. Wenn Adrien Brody („Der Pianist“) von der Faszination des Kinos erzählt und trotz aller Ironie in lange Tränenpausen verfällt, dann ist das großes Kino, das manchen langatmigen Film um Längen schlägt.