Ein Leben im Schatten
Begegnung mit einem Mindelheimer Flaschensammler. Peter N. hatte Familie, Beruf, ein geregeltes Leben. Doch dann war alles anders
Man muss schon genau hinsehen, so unauffällig bewegen sie sich durch die Stadt. Manche ziehen jeden Tag ihre Kreise, oft schon frühmorgens. Niemand soll sie sehen. Andere versuchen ihr Glück in den Nachmittagsstunden. Sie sind mit Rollern ohne Motoren unterwegs, mit Fahrrädern, und meist zu Fuß. Und jeder arbeitet auf eigene Rechnung. Mit sich tragen sie größere Kunststofftaschen oder Rucksäcke. Am ehesten fallen sie durch ihren suchenden Blick auf und ihr hastiges Weitergehen, wenn sie in einem Mülleimer Beute gemacht haben.
Es ist ein Leben am Rande in der reichen Stadt Mindelheim, wo es nach Lesart der Politik Armut eigentlich nicht gibt. Zwar gibt es die Mindelheimer Tafel, in der sich Bedürftige im Seniorenzentrum St. Georg jeden Donnerstag günstig mit Lebensmitteln eindecken können. Aber Armut in einer aufstrebenden Stadt mit weniger als zwei Prozent Arbeitslosen- quote ist allenfalls ein Randthema. Und es ist mit Scham behaftet.
Keiner will auffallen, wenn er seinem Nebenjob nachgeht und Flaschen sammelt, um seine kärgliche Rente aufzubessern. Fünf bis sechs Flaschensammler dürfte es in Mindelheim geben, die regelmäßig unterwegs sind. Mit einem von ihnen haben wir uns getroffen. Er will anonym bleiben. Peter N. (Name von der Redaktion geändert) ist nach einem Unfall vorzeitig in Rente gegangen. Er war noch keine 60 Jahre alt, als er auf einem nassen Plakat, das auf dem Gehweg lag, ausgerutscht war. Er war so unglücklich gefallen, dass er sich das Sprunggelenk brach. Mehrere Autofahrer sind vorbeigefahren, auch ein Radfahrer, erzählt er. Geholfen habe ihm keiner, obwohl er hilflos am Boden lag. Mühsam hat er sich an einem Zaun hochgezogen und sich zu einer nahe gelegenen Tankstelle geschleppt. Dort wurde der Notarzt alarmiert, der ihn ins Krankenhaus gefahren hat. Den Weg zurück ins Arbeitsleben fand er nicht mehr.
Peter N. war Koch, Konditor und hat zuletzt bei einer großen Mindelheimer Firma gearbeitet. Sechs Wochen konnte er sich nur im Rollstuhl fortbewegen. Danach kam die Berufsunfähigkeit. Finanziell musste er von diesem Tag an mit deutlich weniger auskommen. Dennoch klagt er nicht. „Ich komme über die Runden“, sagt er. Große Sprünge könne er allerdings nicht machen. Wenn er wegfährt, dann nur, um seine Geschwister zu besuchen, die woanders leben. Dann kann er bei ihnen wohnen.
Der Unfall ist acht Jahre her. Vor ein paar Jahren ist Peter N. aufgefallen, wie viele in Mindelheim achtlos ihre leeren Flaschen stehen lassen. Vor allem nach einem Wochenende in der warmen Jahreszeit, wenn viele draußen sitzen, lohnt sich ein Rundgang, sagt er.
Es seien oft Schüler, die es sich offenbar leisten können, auf das Pfandgeld zu verzichten. Acht Cent sind es bei einer normalen Bierflasche, 25 bei einer Plastikflasche. Ebenfalls 25 Cent gibt es für eine Red-Bull-Dose.
Zwei Mal die Woche hat es sich Peter N. zur Gewohnheit gemacht, durch die Stadt zu streifen. Längst weiß er, wo es sich besonders lohnt, nachzusehen. Das soll an dieser Stelle auch nicht verraten werden. Es sei ihm eigentlich gar nicht so sehr ums Geld gegangen. Er lebt allein, und er bewegt sich gerne an der frischen Luft. Er fand es einfach seltsam, dass da einfach Geld im Müll landet. 10 bis 15 Euro bekommt er immer jede Woche zusammen, außer in den Ferien. Da herrscht eher Flaute für die Flaschensammler.
Besonders lohnend ist die Zeit des Münchner Oktoberfestes. Da glühen offenbar viele vor, weil das Bier auf der Wiesn so teuer ist. Für Peter N. und die anderen Flaschensammler sind das gute Zeiten. Er mag das Oktoberfest, obwohl er selbst nie hinfährt. Auch der Mindelheimer Fasching produziert jede Menge Flaschen.
Peter N. ist ein freundlicher, zurückhaltender Mann. Ich frage ihn am Ende des Gesprächs, ob das Leben gerecht sei? Dann erzählt er seine ganze Geschichte. Vor vielen Jahren war er mit seiner Frau und seinem eineinhalb Jahre alten Kind in den Urlaub aufgebrochen. Plötzlich war auf der Autobahn ein Reifen geplatzt. Die Folgen waren schrecklich. Frau und Kind waren sofort tot. „Ich hadere manchmal mit dem Leben“, sagt er und bedankt sich für das Gespräch.