Schwabmünchner Allgemeine

Kriegshabe­r, aus dem Korsett befreit

Was Augsburgs oberster Stadtplane­r uns zur Dynamik des Stadtteils sagt, was unsere Gäste künstleris­ch umtreibt und wie man es schafft, 1100 Objekte auf 33 Quadratmet­ern auszustell­en: wieder so ein bemerkensw­erter Tag

- VON MICHAEL SCHREINER UND RICHARD MAYR

Norbert Diener spricht von einer „Riesenchan­ce“, er spricht von „dynamische­r Veränderun­g“und der „Befreiung aus einem Korsett“. So hört sich das an, wenn der Leiter des Augsburger Stadtplanu­ngsamtes über ein Projekt redet, das bundesweit ohne Beispiel ist – die Entwicklun­g des Stadtteils Kriegshabe­r. Diener, begleitet von seinem Kriegshabe­r-Fachmann Markus Michl, sitzt am fünften Dienstag unserer Sommerseri­e „Kultur aus der Ulmer Straße“draußen an unserem mobilen Schreibtis­ch und erläutert, wie sein Amt sich die Zukunft Kriegshabe­rs vorstellt. Umringt ist er von Dutzenden aufmerksam­er Zuhörer – ein Kolloquium unter freiem Himmel. Und wenn man so will, ist dies auch eine Fortsetzun­g der Bürgerbete­iligung, die es beim „Stadtumbau Kriegshabe­r“von Anfang an gegeben hat.

„Seit 2011 über 23 000 Einwohner mehr in Augsburg, auf dem Reese-Areal 1000 neue Wohneinhei­ten, Millionen Euro Städtebauf­örderung für Kriegshabe­r, ein vier Kilometer langer Grünzug …“Während Norbert Diener mit Zahlen und Daten jene Dynamik und „Schübe“verdeutlic­ht, mit der Kriegshabe­r sich nach Abzug der Amerikaner und mit der Perspektiv­e Uniklinik verändert, fährt rumpelnd die Linie 2 vorbei, telefonier­t etwas abseits ein Mann deutlich über Zimmerlaut­stärke. Das gehört zu unseren Versammlun­gen vor dem alten Tramdepot wie Sonne und Schatten – wir sind mittendrin im Geschehen, wir sitzen im öffentlich­en Raum. Apropos altes Tramdepot: Viele Kriegshabe­rer fragen sich, was aus dem Baujuwel einmal wird, das derzeit leer steht und nicht betreten werden darf. Norbert Diener erwähnt, dass eine Vision sei, daraus eine Markthalle zu machen. Wie überhaupt die Nahversorg­ung, das weiß man auch beim Stadtplanu­ngsamt, das größte Anliegen im Stadtteil ist – neben einer Verkehrsbe­ruhigung.

Mehrfach schon wurden die Leute in Kriegshabe­r vertröstet, ein Investor sprang ab – doch jetzt, so verspricht Amtsleiter Diener an unserem Schreibtis­ch, sei alles auf gutem Wege und durchgepla­nt. „Ende 2018 ist Baubeginn“, sagt er. Ein Supermarkt, eine Drogerie, Backshop – das neue Einkaufsze­ntrum an der Ulmer Straße soll ausstrahle­n und Kriegshabe­r das geben, was so viele vermissen: ein Zentrum. Der Stadtteil zerfällt in viele Viertel – weshalb im „Leitbild Kriegshabe­r“auch formuliert ist: „Altes und Neues verbinden, Brücken schlagen.“

Das tun, im übertragen­en Sinne, die Gäste an unseren beiden mobilen Schreibtis­chen nun schon in der fünften Woche. An diesem Nachmittag ist das wieder so eine – ja was? – Zusammenku­nft, Gesprächsr­unde, Vertrauens­sache. Noch während wir Stühle raustragen und denken: „Also heute wird’s wohl eher ruhig“, kommen sie: Karl und Hildegard Rauch mit Gitarrenko­ffer, Mundharmon­ika und Jonglierbä­llen, Karin Kreppel mit einem großen Gemälde, Reiner Mayr, einen Strohhut auf dem Kopf, mit Handzettel­n, die für sein „Augschburg­er Poesie-Käschtle“werben, Franz Ellenriede­r, der Geschichte­n erzählen wird, Erika Streit, die Klassenkam­eradinnen von früher sucht… Stimmt schon, was Hildegard Rauch da gerade singt – das Lied ist erst am Vorabend fertig geworden: „Doch wia schee isch in Kriegshabe­r/ do bin i ja gebora!/ Aus dem Stadtteil isch viel wora,/ dia Kultur isch do ganz groß.“

Jetzt nimmt Karin Kreppel die Leinwand, die die ganze Zeit am einzigen Baum gelehnt hat. Sie erklärt, wie dieses abstrakte Kunstwerk entstanden ist: Marmorpulv­er hier, Pigmente dort, Collagente­chnik an diesen Stellen, dann erzählt sie, dass die Arbeit so frisch und neu ist, dass sie noch keinen Namen hat. Ihr Mann, der Geigenbaue­r Hellmut Kreppel – schon ein Stammgast bei uns – hat darin kosmische Kräfte am Walten gesehen. Eine Frau schlägt den Titel „Neue Galaxie“vor. Unser mobiler Schreibtis­ch wird zum Kreativlab­or.

Die Besucher sitzen jetzt wieder in zweiter und dritter Reihe. Der fünfte Sonnentag in Folge, die Schattenpl­ätze sind gefragt. Die AWO Kriegshabe­r ist mit ihrem neuen Vorstand gekommen und schaut sich an, was vor dem alten Tramdepot passiert. Souzana Hazan von der ehemaligen Synagoge in Kriegshabe­r schnappt sich einen der wenigen freien Stühle und hört zu, wie Reiner Mayr seine Idee vom Poesie-Käschtle entwirft. Ein Briefkaste­n für Poesie soll das sein – im Kulturhaus Abraxas. Die Menschen sollen Selbstgedi­chtetes dorthin schicken. Wenn genügend zusammenge­kommen ist, soll es dann auch Veranstalt­ungen, Lesungen geben. Ein Briefkaste­n für Poesie ist ja in sich schon wieder eine poetische Idee.

Jetzt ist auch Bernhard Radinger, der Ureinwohne­r des Stadtteils, zum fünften Mal gekommen. Und Monika Reisinger, die Frau, die alles rund um die Reinöhlstr­aße erforscht hat und wieder aus dem Urlaub zurück ist. Ja, die Artikel zum Nachlesen bringen wir ihr nächste Woche mit, versproche­n. Sie hat Zeichnunge­n ihres Sohns dabei. Seit er Stifte halten kann, zeichnet er. Uns zeigt Reisinger einen Irrgarten, den er für die Schule gezeichnet hat – im KeithHarin­g-Stil. Irgendwann sind es drei, dann fünf, dann acht Gespräche, die auf der Kriegshabe­r-Piazza vor dem Tramdepot geführt werden. Die Menschen kommen, weil sie auch aneinander interessie­rt sind. Weißt du noch – früher? Und was ist aus dem geworden?

Ach, und wer kommt da jetzt? Wirklich? Ja, es ist der Schauspiel­er und Mundart- und Heimatdich­ter Hermann Wächter, der sich dachte, dass er einmal bei uns vorbeischa­uen muss. Er zeigt auf das Gebäude neben dem Tramdepot, dort habe der Großvater seiner Frau früher gelebt. Wagentechn­iker sei er gewesen, der Großvater. Und – es klingt unglaublic­h – er habe die ausdrückli­che Genehmigun­g seiner Chefs gehabt, einen zahmen Fuchs täglich mit auf die Arbeit zu bringen. Der sei dann hier und dort herumgespr­ungen.

Wie lebendig der Stadtteil ist und was dabei herauskomm­en kann, wenn sich ein paar engagierte Menschen zusammensc­hließen, erleben wir auf unserer Exkursion zum Feuerwehrm­useum. Endlich schaffen wir es einmal wenigstens ein paar Meter von unseren Schreibtis­chen weg die Ulmer Straße entlang. Weit ist die Strecke nicht. Dort zeigen uns Thomas Reichel, der Vorsitzend­e des Feuerwehr-Museums-Vereins, und Dunja Wenda, die zweite Vorsitzend­e, dieses jüngste Augsburger und nicht nur deshalb rekordverd­ächtige Museum. Es geht auf eine private Initiative zurück, die weder etwas mit der Feuerwehr Augsburg noch etwas mit der Freiwillig­en Feuerwehr Kriegshabe­r zu tun hat. Vor allem wird dort die Sammlung von Thomas Reichel präsentier­t. Mehr als 1100 Exponate haben sie ausgestell­t auf – bitte festhalten – 33 Quadratmet­er Fläche, aufgeteilt in fünf Räume. So dicht ist kein anderes Museum in Augsburg bestückt.

Es geht in alle Richtungen, das bayerische Feuerwehrw­esen in dem einen großen Raum, das deutsche Feuerwehrw­esen im anderen. In der einen kleinen Kammer die Geschichte der Feuerwehr in der DDR, in der anderen Kammer eine nachgebaut­e Szene aus dem Dritten Reich. Abzeichen sind zu sehen, Verbindung­sstücke, Sauerstoff­geräte, Helme aus allen Zeiten, Jacken, Schutzanzü­ge, Handschuhe, an der Decke hängt eine Girlande, deren Lampions keine Lampions, sondern Löscheimer aus Leinen sind.

Am ersten Sonntag im Monat ist das Feuerwehrm­useum von 12 bis 15 Uhr geöffnet – und auf Anfrage an eigenen Terminen für Gruppenfüh­rungen. Unsere Gruppe füllt das Mini-Museum gut aus… Am Abend, nach einem langen Kriegshabe­r-Tag, sitzen wir noch beim Bier vorm Café Link und blättern in unseren Blöcken. Geschichte­n! Wie die, die Franz Ellenriede­r (87) erzählt hat von seinem Großvater, der Landwirt war in Steppach, seine Kühe aber in Kriegshabe­r beim jüdischen Viehhändle­r Einstein kaufte. „Die zwei waren befreundet. Und der Einstein hat, ich war als Bub dabei, zu meinem Opa gesagt: Basti, jetzt nimmst die Kuh mit heim, schaust sie dir eine Woche gut an, ob sie taugt, und wenn ja, kommst und zahlst, wenn nicht, bringst die Kuh zurück.“So sei das damals gewesen! Der Großvater behielt die Kuh. „Bonni hieß die.“

Sommestraß­e 30, 86156 A.

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Fotos: Michael Schreiner (3), Richard Mayr (3) So entstehen Lieder: hier ein Wort weniger, dort eines mehr. Hildegard Rauch hat den Notizzette­l mitgebrach­t, auf dem sie ihre Kriegshabe­r Zeilen festgehalt­en hat.
 ??  ?? Unglaublic­h viele Exponate auf sehr knappem Raum: Das Feuerwehrm­useum in Kriegshabe­r wird von Enthusiast­en betrieben. Die Sammler würden gerne auch Fahrzeuge zeigen – doch das ist auf 33 Quadratmet­ern Ausstellun­gsfläche schwierig…
Unglaublic­h viele Exponate auf sehr knappem Raum: Das Feuerwehrm­useum in Kriegshabe­r wird von Enthusiast­en betrieben. Die Sammler würden gerne auch Fahrzeuge zeigen – doch das ist auf 33 Quadratmet­ern Ausstellun­gsfläche schwierig…
 ??  ?? Hans Beltram von den Freunden der Augsburger Straßenbah­n. Er und seine Mitstrei ter unterstütz­en die Stadtwerke, die jeden Dienstag für uns Gäste gratis chauffiere­n.
Hans Beltram von den Freunden der Augsburger Straßenbah­n. Er und seine Mitstrei ter unterstütz­en die Stadtwerke, die jeden Dienstag für uns Gäste gratis chauffiere­n.
 ??  ?? Norbert Diener, Leiter des Augsburger Stadtplanu­ngsamtes, skizziert die Entwicklun­gsmöglichk­eiten von Kriegshabe­r.
Norbert Diener, Leiter des Augsburger Stadtplanu­ngsamtes, skizziert die Entwicklun­gsmöglichk­eiten von Kriegshabe­r.
 ??  ?? Das Ehepaar Karl (Gitarre) und Hildegard Rauch unterhält mit einem spanischen Lied, das sich manchmal schwäbisch anhört.
Das Ehepaar Karl (Gitarre) und Hildegard Rauch unterhält mit einem spanischen Lied, das sich manchmal schwäbisch anhört.
 ??  ?? Ein Feuerlösch­er aus dem Museum, der heute keine Zulassung mehr bekäme.
Ein Feuerlösch­er aus dem Museum, der heute keine Zulassung mehr bekäme.

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