Sie ist das Gesicht der Augsburger Sinti
Marcella Reinhardt engagiert sich für Menschen, die immer noch mit Vorurteilen zu kämpfen haben. Das hat viel mit der Familiengeschichte der 48-Jährigen zu tun. Für die Zukunft hat sie einen besonderen Wunsch
Diese Urlaubsbilder will niemand sehen. Die Fotos, die Marcella Reinhardt kürzlich aufgenommen und auf ihrem Handy gespeichert hat, haben so gar nichts mit Sommer, Sonne und Spaß zu tun. Sie zeigen Berge von Kleidern, von alten Schuhen und von Rasierpinseln. Sie sind die Hinterlassenschaften von Menschen, die im Vernichtungslager Auschwitz in den Gaskammern ermordet wurden.
Beim Anblick der Fotos füllen sich Reinhardts Augen mit Tränen. Die 48-Jährige war zum Gedenktag des Völkermords am 3. August nicht als normale Touristin nach Auschwitz gereist. Die Vorsitzende des Regionalverbands der Sinti und Roma begab sich in Polen auch auf die Spuren ihrer eigenen Vergangenheit. Mitglieder ihrer Familie verloren im KZ ihr Leben, weil die Sinti von den Nazis wie die Juden als minderwertig und nicht lebenswert erachtet wurden.
Dass Marcella Reinhardt auf der Welt und heute Mutter von zwei erwachsenen Kindern und Oma eines dreijährigen Enkels ist, hat sie einem Schubser zu verdanken. „Mein Vater befand sich auf dem Transport nach Auschwitz, als ihn sein Vater in letzter Sekunde vom Wagen stieß und ihm damit das Leben rettete.“Fast alle anderen Familienmitglieder seien im KZ ums Leben gekommen. Auch in der Familie ihrer Mutter, die ursprünglich aus Österreich stammte, seien viele Angehörige umgebracht worden.
Anders als ihr Vater, der in ganz jungen Jahren Zwangsarbeit leisten musste, erlebte Marcella Reinhardt – Jahrgang 1968 – eine relativ unbe- schwerte Kindheit. Zusammen mit ihren Eltern, die sich in Augsburg kennengelernt hatten, und den acht Geschwistern verbrachte das Nesthäkchen die ersten Jahre im Fischerholz, dem berühmt-berüchtigten Bereich ganz im Norden Oberhausens zwischen Schönbachstraße, Klärwerk und Wertach. Die Sinti oder „Zigeuner“, wie sie von manch anderen verächtlich tituliert wurden, lebten dort unter einfachsten Verhältnissen in Baracken, die später abgerissen wurden. Die Familie zog anschließend in eine ebenfalls karge Wohnung bei der Löweneckschule, in der Reinhardt die kompletten neun Jahre bis zum Abschluss absolvierte.
In der Schule, erzählt die zierliche Frau, habe sie sich nie ausgestoßen gefühlt. Ihre Freunde seien nicht ausschließlich Sinti gewesen. Negative Erlebnisse verbindet sie jedoch mit Familienreisen im Wohnwagen. Schilder mit der Aufschrift „Für Landfahrer verboten“verleideten den Aufenthalt auf nahezu jedem Campingplatz. Und hätte es nicht mitleidige Bauern gegeben, die die Sinti-Familie auf ihrem Hofgelände übernachten ließen, hätte so mancher Ausflug vorzeitig geendet.
Ob es diese Erlebnisse waren oder die Tatsache, dass Marcella Reinhardt im Gegensatz zu ihren Eltern und anderen Sinti-Familien lesen und schreiben konnte: Schon als junge Frau stand sie ihren Leuten bei Behördengängen zur Seite oder half bei Anträgen für eine Entschädigung. „Meine Mama hat für ihre im KZ umgekommene Mutter 7800 Deutsche Mark als Wiedergutmachung erhalten“, sagt Reinhardt. So viel, oder besser gesagt, so wenig, sei also ein Leben wert, sagt sie und schüttelt den Kopf. Die Augsburgerin, die heute mit ihrem Mann in Gersthofen lebt, engagierte sich im Lauf der Zeit immer mehr für ihre Leute.
Zunächst im Landesverband der Sinti und Roma und seit Kurzem im Regionalverband, „um den rund 2000 Sinti in Schwaben“eine Stimme zu geben. Denn auch heute würden die Menschen noch diskriminiert und müssten mit Vorurteilen kämpfen. „Klar, bei uns gibt es, wie anderswo auch, schwarze Schafe. Doch deswegen dürfen nicht alle über einen Kamm geschoren werden“, empört sich Reinhardt. Der Kampf um die deutsche Staatsangehörigkeit ist ein weiteres Thema. Viele Sinti seien staatenlos, weiß die Regionalvorsitzende.
Noch befindet sich die Geschäftsstelle des Verbandes in ihrer kleinen Wohnung. „Es fehlt an Geld für ein eigenes Büro.“Umso größer ist ihre Freude, dass es immer mehr Gelegenheiten gibt, auf die Belange und das Schicksal ihrer Landsleute aufmerksam zu machen. Im Rahmen der Veranstaltungen zum Augsburger Friedensfest war in der einstigen KZ-Außenstelle Halle 116 auf dem Sheridan-Areal die Ausstellung „Sinti gestern, heute und morgen“zu sehen. Marcella Reinhardt hofft inständig, dass die Geschichte der Sinti und Roma auch künftig in dem Gebäude, das eine Gedenkstätte werden soll, lebendig gehalten wird. „Es ist wichtig, dass die Jugend erfährt, was mit meinem Volk passiert ist, auch wenn es mehr als 70 Jahre her ist.“
Die nächste Möglichkeit dazu gibt es beim Marktsonntag in Oberhausen am 3. September. Auf Einladung der Arge-Vorsitzenden Hannelore Köppl wird Marcella Reinhardt einen Teil der neuen Ausstellung präsentieren. Sinti-Musiker aus München umrahmen die Schau mit temperamentvoller und fröhlicher Musik, sagt Reinhardt. Und es gibt auch Fotos auf ihrem Handy, die zeigen, dass sie voller Lebensfreude steckt.