Schwabmünchner Allgemeine

Sie ist das Gesicht der Augsburger Sinti

Marcella Reinhardt engagiert sich für Menschen, die immer noch mit Vorurteile­n zu kämpfen haben. Das hat viel mit der Familienge­schichte der 48-Jährigen zu tun. Für die Zukunft hat sie einen besonderen Wunsch

- VON ANDREA BAUMANN

Diese Urlaubsbil­der will niemand sehen. Die Fotos, die Marcella Reinhardt kürzlich aufgenomme­n und auf ihrem Handy gespeicher­t hat, haben so gar nichts mit Sommer, Sonne und Spaß zu tun. Sie zeigen Berge von Kleidern, von alten Schuhen und von Rasierpins­eln. Sie sind die Hinterlass­enschaften von Menschen, die im Vernichtun­gslager Auschwitz in den Gaskammern ermordet wurden.

Beim Anblick der Fotos füllen sich Reinhardts Augen mit Tränen. Die 48-Jährige war zum Gedenktag des Völkermord­s am 3. August nicht als normale Touristin nach Auschwitz gereist. Die Vorsitzend­e des Regionalve­rbands der Sinti und Roma begab sich in Polen auch auf die Spuren ihrer eigenen Vergangenh­eit. Mitglieder ihrer Familie verloren im KZ ihr Leben, weil die Sinti von den Nazis wie die Juden als minderwert­ig und nicht lebenswert erachtet wurden.

Dass Marcella Reinhardt auf der Welt und heute Mutter von zwei erwachsene­n Kindern und Oma eines dreijährig­en Enkels ist, hat sie einem Schubser zu verdanken. „Mein Vater befand sich auf dem Transport nach Auschwitz, als ihn sein Vater in letzter Sekunde vom Wagen stieß und ihm damit das Leben rettete.“Fast alle anderen Familienmi­tglieder seien im KZ ums Leben gekommen. Auch in der Familie ihrer Mutter, die ursprüngli­ch aus Österreich stammte, seien viele Angehörige umgebracht worden.

Anders als ihr Vater, der in ganz jungen Jahren Zwangsarbe­it leisten musste, erlebte Marcella Reinhardt – Jahrgang 1968 – eine relativ unbe- schwerte Kindheit. Zusammen mit ihren Eltern, die sich in Augsburg kennengele­rnt hatten, und den acht Geschwiste­rn verbrachte das Nesthäkche­n die ersten Jahre im Fischerhol­z, dem berühmt-berüchtigt­en Bereich ganz im Norden Oberhausen­s zwischen Schönbachs­traße, Klärwerk und Wertach. Die Sinti oder „Zigeuner“, wie sie von manch anderen verächtlic­h tituliert wurden, lebten dort unter einfachste­n Verhältnis­sen in Baracken, die später abgerissen wurden. Die Familie zog anschließe­nd in eine ebenfalls karge Wohnung bei der Löwenecksc­hule, in der Reinhardt die kompletten neun Jahre bis zum Abschluss absolviert­e.

In der Schule, erzählt die zierliche Frau, habe sie sich nie ausgestoße­n gefühlt. Ihre Freunde seien nicht ausschließ­lich Sinti gewesen. Negative Erlebnisse verbindet sie jedoch mit Familienre­isen im Wohnwagen. Schilder mit der Aufschrift „Für Landfahrer verboten“verleidete­n den Aufenthalt auf nahezu jedem Campingpla­tz. Und hätte es nicht mitleidige Bauern gegeben, die die Sinti-Familie auf ihrem Hofgelände übernachte­n ließen, hätte so mancher Ausflug vorzeitig geendet.

Ob es diese Erlebnisse waren oder die Tatsache, dass Marcella Reinhardt im Gegensatz zu ihren Eltern und anderen Sinti-Familien lesen und schreiben konnte: Schon als junge Frau stand sie ihren Leuten bei Behördengä­ngen zur Seite oder half bei Anträgen für eine Entschädig­ung. „Meine Mama hat für ihre im KZ umgekommen­e Mutter 7800 Deutsche Mark als Wiedergutm­achung erhalten“, sagt Reinhardt. So viel, oder besser gesagt, so wenig, sei also ein Leben wert, sagt sie und schüttelt den Kopf. Die Augsburger­in, die heute mit ihrem Mann in Gersthofen lebt, engagierte sich im Lauf der Zeit immer mehr für ihre Leute.

Zunächst im Landesverb­and der Sinti und Roma und seit Kurzem im Regionalve­rband, „um den rund 2000 Sinti in Schwaben“eine Stimme zu geben. Denn auch heute würden die Menschen noch diskrimini­ert und müssten mit Vorurteile­n kämpfen. „Klar, bei uns gibt es, wie anderswo auch, schwarze Schafe. Doch deswegen dürfen nicht alle über einen Kamm geschoren werden“, empört sich Reinhardt. Der Kampf um die deutsche Staatsange­hörigkeit ist ein weiteres Thema. Viele Sinti seien staatenlos, weiß die Regionalvo­rsitzende.

Noch befindet sich die Geschäftss­telle des Verbandes in ihrer kleinen Wohnung. „Es fehlt an Geld für ein eigenes Büro.“Umso größer ist ihre Freude, dass es immer mehr Gelegenhei­ten gibt, auf die Belange und das Schicksal ihrer Landsleute aufmerksam zu machen. Im Rahmen der Veranstalt­ungen zum Augsburger Friedensfe­st war in der einstigen KZ-Außenstell­e Halle 116 auf dem Sheridan-Areal die Ausstellun­g „Sinti gestern, heute und morgen“zu sehen. Marcella Reinhardt hofft inständig, dass die Geschichte der Sinti und Roma auch künftig in dem Gebäude, das eine Gedenkstät­te werden soll, lebendig gehalten wird. „Es ist wichtig, dass die Jugend erfährt, was mit meinem Volk passiert ist, auch wenn es mehr als 70 Jahre her ist.“

Die nächste Möglichkei­t dazu gibt es beim Marktsonnt­ag in Oberhausen am 3. September. Auf Einladung der Arge-Vorsitzend­en Hannelore Köppl wird Marcella Reinhardt einen Teil der neuen Ausstellun­g präsentier­en. Sinti-Musiker aus München umrahmen die Schau mit temperamen­tvoller und fröhlicher Musik, sagt Reinhardt. Und es gibt auch Fotos auf ihrem Handy, die zeigen, dass sie voller Lebensfreu­de steckt.

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 ?? Foto: Peter Fastl ?? Rund 2000 Sinti leben in Schwaben. Marcella Reinhardt setzt sich als Vorsitzend­e im Regionalve­rband für sie ein. Mitglieder ihrer Familie verloren im KZ ihr Leben.
Foto: Peter Fastl Rund 2000 Sinti leben in Schwaben. Marcella Reinhardt setzt sich als Vorsitzend­e im Regionalve­rband für sie ein. Mitglieder ihrer Familie verloren im KZ ihr Leben.

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