Schwabmünchner Allgemeine

Diese Frau hat einen brutalen Job

Ihr jüngstes Gewaltopfe­r war zwei Tage alt, das älteste über 90 Jahre. Saskia Etzold ist Rechtsmedi­zinerin. In einer speziellen Ambulanz erlebt sie von früh bis spät die Abscheulic­hkeiten des Alltags. Wie erträgt sie das nur?

- VON ULRIKE VON LESZCZYNSK­I UND ANDREAS FREI Berlin/Ulm

„Wenn du gehst, mach ich dich tot.“So brutal wie simpel kann eine Morddrohun­g klingen. Trotzdem ruft Saskia Etzold dann nicht die Polizei. Jedenfalls nicht automatisc­h. Selbst wenn da eine verängstig­te Frau vor ihr steht, grün und blau geschlagen von ihrem Mann, eine Situation, die nach den Gesetzeshü­tern schreit. Doch die Rechtsmedi­zinerin ist bei Erwachsene­n zum Schweigen verpflicht­et. Der Schritt, die Polizei einzuschal­ten, muss von den Opfern selbst ausgehen. Das mit dem Schweigen hat schon seinen Sinn bei der Berliner Gewaltschu­tzambulanz.

Doktor Etzold, kurze, blonde Haare, auffällige Brille, verbindlic­hes Lächeln, ist deren Vize-Chefin. Sie weiß: Hätten Frauen nicht die Zusicherun­g, dass ihr Anliegen vertraulic­h behandelt wird, würden sie erst gar nicht kommen. Die Ärztin kann dennoch eine ganze Menge für solche Frauen tun: Verletzung­en dokumentie­ren, Beratungss­tellen empfehlen oder ein Frauenhaus.

Die Gewaltschu­tzambulanz liegt hinter einem hohen Zaun in einer stillen Straße im Stadtteil Moabit, direkt neben der Rechtsmedi­zin der Charité. Wer rein will, muss klingeln und mehrere Türen passieren, die sofort wieder zuschnappe­n. Ein bisschen wie im Gefängnis. Nur, dass die Täter draußen herumlaufe­n und die Opfer drinnen sitzen. Auf den Tischen stehen Taschentuc­hBoxen. Hier wird viel geweint.

Seit 2014 ist die Ambulanz so etwas wie ein Seismograf für Gewalt in der Hauptstadt. Einer, der gesellscha­ftliche Entwicklun­gen manchmal früher und feiner messen kann als Polizei und Justiz. Saskia Etzold und ihre Kolleginne­n sehen jeden Tag die ganze Bandbreite von Gewalt: blaue Flecken, Knochenbrü­che, Stichverle­tzungen, Würgemale, Verbrennun­gen, Spuren sexueller Übergriffe. Im Schnitt kommen 100 Menschen im Monat.

Oft sind es Gewalttate­n, die im Polizeiber­icht nicht auftauchen. Rund die Hälfte der erwachsene­n Betroffene­n will keine Anzeige erstatten und damit kein Gerichtsve­rfahren durchziehe­n. Aus Scham, aus Angst vor dem Partner, aus Angst um den Job – oder im festen Glauben, damit allein fertig zu werden. Ein Gutachten der Ambulanz ist dann wie eine private Rückversic­herung. Denn: Die Opfer können ihre Verletzung­en vertraulic­h und kostenlos dokumentie­ren lassen, und selbst wenn sie sich erst später zu einer Anzeige durchringe­n, zählt die Dokumentat­ion bei einer Verhandlun­g vor Gericht. Oder auch bei einem Scheidungs­verfahren.

Nach der jüngsten Kriminalst­atistik zählt Berlin zu den gefährlich­sten Großstädte­n Deutschlan­ds. Auf 100 000 Einwohner kommen 16160 Straftaten. Etzold beeindruck­en solche Superlativ­e wenig. Sie beobachtet anderes. „Die Zahl der Gewalttate­n ist relativ konstant. Aber die Hemmschwel­le sinkt. Das ist der Punkt“, sagt sie. Früher hätten aggressive Schaulusti­ge keine Rettungssa­nitäter angegriffe­n. Kaum jemand sei wegen einer langen Wartezeit in der Notaufnahm­e ausgeraste­t. Busfahrer, Polizisten oder Leute von der Sicherheit­swacht seien seltener bespuckt und geschlagen worden. Ganz zu schweigen von dem, was sich verfeindet­e Nachbarn alles antun.

In Etzolds Arbeitszim­mer liegen neben Büchern blanke weiße Knochen in einer Glasvitrin­e. Manche haben ein kleines rundes Loch – Spuren von Schussverl­etzungen. „Ich finde das weder makaber noch igitt“, sagt sie mit einem Seitenblic­k auf die Sammlung aus der Rechtsmedi­zin. „Wir lernen von den Toten für die Lebenden“, ergänzt sie. „Wie weich ist ein Kinderschä­del? Wann bricht eine Rippe?“Etzold ist bei solchen Beschreibu­ngen sehr direkt. Es geht ihr nicht um den Gruselfakt­or. Es ist die Realität.

„Alltagsgew­alt wird in unserer Gesellscha­ft unterschät­zt“, findet sie. Stereotype griffen nicht, Gewalt sei zum Beispiel nicht per se „bildungsfe­rn“. „In der Villa in Zehlendorf wird genauso geprügelt wie in der Platte in Marzahn.“Nur subtiler. „Hartz IV haut ins Gesicht. Akademiker schlagen dahin, wo es niemand sieht.“Ihr jüngstes Gewaltopfe­r war zwei Tage alt, das älteste über 90 Jahre.

Die Rechtsmedi­zinerin ist in ihren Dokumentat­ionen eine Frau der klaren Worte. Ein Oberarmbru­ch heißt Oberarmbru­ch und nicht „Humerus fx“. Aus den Gutachten soll jeder verstehen können, wie zugeschlag­en, zugestoche­n oder wie die Hände eines Kindes auf eine heiße Herdplatte gedrückt wurden.

Gemeinsam mit ihrem Chef Michael Tsokos hat Etzold ein Buch geschriebe­n: „Deutschlan­d misshandel­t seine Kinder“. Es schildert nicht nur unfassbare Grausamkei­ten, es liest sich wie eine Abrechnung mit dem deutschen Hilfesyste­m – überforder­te Jugendämte­r, unerfahren­e Familienhe­lfer, ahnungslos­e Kinderärzt­e, naive Richter. Ein subjektive­r Blick. „Ich habe Empathie mit allen Opfern. Aber Kinder können nicht ihre Koffer packen und gehen“, sagt Etzold. „Wenn Eltern, die ihr Kind nachweisli­ch misshandel­t haben, es trotzdem weiter sehen dürfen, dann geht mir das nicht in den Kopf.“

Etzold ist 36 Jahre alt. Gewalt war für sie lange ganz weit weg. „Behütetes Einzelkind aus Hamburg“, sagt sie und ergänzt schmunzeln­d: „Bildungsna­h.“Heute weiß sie, dass alles zur Waffe werden kann. Sogar der Schilfwede­l, der eine Wohnzimmer­wand schmückte, bis ein Mann damit auf seine Frau eindrosch. Solche Schnittwun­den hatte die Ärztin noch nie gesehen. Gewalt und immer wieder Gewalt. Männer gegen Frauen, Männer und Frauen gegen Kinder. Seltener Frauen gegen Männer. Gibt es aber auch. Da wundert es, wenn Etzold betont: „Ich mag meinen Beruf.“

Auch, wenn er sie manchmal an die eigene Schmerzgre­nze führt. Die Gespräche mit den überlebend­en Opfern des Terroransc­hlags vom 19. Dezember auf den Weihnachts­markt an der Gedächtnis­kirche gehören zu den Erinnerung­en, die sie bei aller profession­ellen Distanz nicht aus dem Kopf bekommt. Mit wem kann sie reden, außer den Kollegen? „Mit meinem Mann.“

Veit Etzold ist Thriller-Autor. Zu einem Bericht der Bild-Zeitung über ihre Hochzeit, wonach sich die Blicke der Liebenden das erste Mal über der Leiche eines Erhängten kreuzten, sagt Saskia Etzold: „Stimmt.“Bei ihrer ersten Begegnung war der Schriftste­ller gerade auf Recherche in der Rechtsmedi­zin. Es sei aber nicht die gruseligst­e Hochzeit des Jahres gewesen, wie ebenfalls beim Boulevard zu lesen war, ergänzt sie. „Ich fand sie wunderschö­n.“Wenn das Paar beim Abendbrot über Leichen redet, ist das nichts Ungewöhnli­ches. Es gibt Verständni­s auf beiden Seiten.

Zum Alltag in der Ambulanz gehören auch Vergewalti­gungen. Von den Erwachsene­n sind drei Viertel Frauen, die Hilfe suchen. Etzold beobachtet auch hier eine gesellscha­ftliche Veränderun­g. „Manchmal denke ich, dass die Diskussion über Rocklängen wieder auflebt. Samt der Unterstell­ung, eine Frau sei ja selbst Schuld, weil sie durch ihre Kleidung provoziert“, sagt sie.

Das macht sie wütend, genauso wie die Argumentat­ion mancher Sozialarbe­iter aus dem islamische­n Kulturkrei­s. „Sie sagen, Gewalt gegen Frauen und Kinder müssten wir hier akzeptiere­n, weil die andere Kultur das nicht anders kenne.“Der Rechtsmedi­zinerin ist die Empörung anzumerken. Mittlerwei­le hat sie einige Erfahrung mit geflüchtet­en Frauen. Die lernten schnell, dass Gewalt in Familien in Deutschlan­d verboten ist. „Und sie kommen zu uns. Mit Dolmetsche­rn, mit Schwestern oder mit Freundinne­n.“

Mittlerwei­le gibt es einige solcher Einrichtun­gen in Deutschlan­d, etwa an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t in München. Oder in Ulm. Dort kooperiere­n die Frauenklin­ik der Uni und der Verein „Frauen helfen Frauen“. Seit drei Jahren können sich Opfer sexueller Gewalt rund um die Uhr in der Klinik kostenlos und vertraulic­h untersuche­n und mögliche Beweismitt­el der Tat sichern lassen – DNA-Spuren etwa. „Diese werden zwei Jahre in der Klinik aufbewahrt“, sagt Oberärztin Dr. Annette Handke-Vesely – falls es irgendwann doch zu polizeilic­hen Ermittlung­en kommen sollte.

Den Ärzten hier ist es wichtig, dass die Frauen auch nach der Behandlung betreut werden – deshalb die Allianz mit der Beratungss­telle des Vereins. „Wir wollen die Frauen nicht drängen, zur Polizei zu gehen, das kann kontraprod­uktiv sein“, sagt Sozialpäda­gogin Sonja Fröhlich. „Es geht in erster Linie darum, Hilfe zu leisten.“

Und steigt auch hier das Ausmaß an Gewalt? Ist Ulm nicht anders als Berlin? „Die Situation ist seit Jahren vergleichs­weise stabil“, sagt Handke-Vesely. Im Bereitscha­ftsdienst

Viele Opfer trauen sich nicht, Anzeige zu erstatten

In Ulm gibt es ein ähnliches Projekt

werde alle ein bis zwei Wochen eine Frau behandelt, bei der ein Vergewalti­gungsverda­cht vorliege. Und auch Sonja Fröhlich sagt, die Zahl der Beratungen sei „nicht signifikan­t gestiegen“.

Aber natürlich macht das keinen einzigen Fall von Gewalt besser. Saskia Etzold, die Rechtsmedi­zinerin aus Berlin, weiß aus Erfahrung: „Jeder Mensch ist bei akuten Bedrohunge­n zu allem fähig.“Aber: „Wo ist denn in diesem Land bitte schön die akute Bedrohung?“Für Etzold gibt es zu viele Entschuldi­gungen für Gewalt, zu viele zerfasernd­e Diskussion­en. „Manchmal erinnert mich das an die Sandkasten­logik von Kleinkinde­rn: Der hat aber angefangen“, sagt sie. Statt zu sagen: Gewalt ist immer indiskutab­el.

Was sie beeindruck­t, ist Zivilcoura­ge. Das fängt dabei an, Beleidigun­gen in Bus und Bahn nicht zu dulden. Es wird zur Hochachtun­g vor den Männern, die jüngst in Hamburg einen Attentäter samt Messer in Schach hielten, bis die Polizei kam. Doch Zivilcoura­ge ist etwas, von dem Gewaltopfe­r in Berlin immer seltener erzählen. Noch etwas, was sich in dieser Stadt verändert hat.

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Foto: Jörg Carstensen, dpa „Alltagsgew­alt wird in unserer Gesellscha­ft unterschät­zt“: die Berliner Rechtsmedi­zinerin Saskia Etzold.

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