Schwabmünchner Allgemeine

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (43)

- »44. Fortsetzun­g folgt

AZwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe

© 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich

ls hätte sie noch schwimmen können. Ich ließ den Motor an und steuerte das Boot an die Mole und ging über den warmen Teppich grauer Asche zum unteren Haus und rief ins Haus und über den Strand und die Berge hinauf. Als hätte sie, während ich schlief, an die Mole fahren, dort anlegen, an Land gehen und mich mit dem Boot wieder aufs Meer schicken können.

Ich setzte mich auf die Bank, auf der Irene mich damals geweckt und begrüßt hatte, zwischen herabgestü­rzte Ziegel, und wusste nicht, wie ich es aushalten sollte. Dass sie nicht da war.

Dass ich ihr Gesicht nicht sehen, ihre Stimme nicht hören, sie nicht anfassen konnte. Ihre Hand nicht in meiner halten konnte. Dass sie am Morgen aufgewacht war und das zerstörte alte Haus gesehen und sich gesagt hatte, dass sie jetzt nach Rock Harbour und nach Sydney gebracht und im weißen Zimmer sterben würde. Dass sie mir nicht vertraut hatte.

Aber was hätte ich auch gemacht? Wie hätte ich sie nicht ins Krankenhau­s bringen sollen? Hätten wir bis zu ihrem Tod auf dem Boot hausen können?

Sie war am Morgen aufgewacht, hatte sich an den Rand des Boots gequält und fallen lassen.

Hatte sie mich davor noch geküsst, mir über den Kopf gestrichen, mir ein Wort gesagt?

Hätte ich aufwachen können? Ich verstand, dass sie nicht im weißen Zimmer sterben wollte.

Aber ich wäre Tag und Nacht bei ihr geblieben, wir wären uns nahe gewesen, wir hätten uns geliebt.

Etwas Besseres als den Tod findest du überall. Irene sollte das nicht gewusst haben?

Etwas Besseres als den Tod findest du überall, und sei’s in einem weißen Zimmer in einem Krankenhau­s in der australisc­hen Provinz oder in Sydney. Es musste sich anders zugetragen haben, als ich es mir ausgemalt hatte. Ihr war schlecht geworden, wie so oft in den letzten Tagen, sie wollte sich am Rand des Boots übergeben, hatte die Balance verloren und war ins Wasser gefallen, zu schwach zu rufen und zu schwach zu schwimmen. Kari kam, sah, dass Irene nicht da war, fragte nichts, sagte nichts, hockte sich an den Strand und sah aufs Meer.

Hörte ich klagende, brummende Töne von dort, wo er außerhalb meines Blickfelds hockte? Ich weiß nicht, wie die Zeit verging, wie lange ich saß und er hockte und manchmal ein paar Töne des Leids zu mir wehten. Irgendwann stand ich auf und sah zu ihm hin, und er war weg.

Ich ging zum Boot, brachte das Bett vom Boot in die Trümmer des alten Hauses, fand auf dem Boot zwischen Rudern, Angelgerät, Kanistern, Schläuchen, Bürsten und Lappen einen Strick, der lange genug war, das Steuerrad so festzubind­en, dass das Boot geraden Kurs halten würde.

Ich legte meine Kleider an den Strand, ging aufs Boot, ließ es an und fuhr mit, bis ich sah, dass es tatsächlic­h geradeaus und auf die Mitte des Ausgangs der Bucht zufuhr. Dann sprang ich ins Wasser und schwamm zurück.

Zuerst hatte ich das Boot versenken wollen. An der Stelle, an der ich am Morgen aufgewacht war und an der, so vermutete ich, Irene ins Meer gefallen war. Das Boot als Sarg oder Grabstein oder Grabgabe, die Stelle als Ort der Trauer und des Abschieds. Aber dann war mir, als werde Irenes Tod mit dem Versenken noch schwerer.

So saß ich auf der Bank und sah dem Boot nach. Es durchmaß das ruhige Wasser der Bucht, erreichte das offene Meer, tanzte dort im Wind und auf den Wellen, hielt aber Kurs und fuhr immer weiter hinaus. Das Meer war leer; kein Containers­chiff, keine Jacht, nichts außer Irenes Boot, das im Nachmittag­slicht kleiner und kleiner wurde. Dann wusste ich nicht mehr, ob ich es noch sah oder mir nur einbildete. Der kleine schwarze Punkt am Horizont – war das Irenes Boot?

Ich sah aufs leere Meer und zählte die Tage, die ich mit Irene gehabt hatte. Ich kam auf vierzehn – es war Dienstag, und an einem Dienstag war ich gekommen, und wir waren nicht nur eine Woche zusammen gewesen, aber auch nicht drei. Mir kam in Erinnerung, wie stolz meine Kinder waren, wenn sie schon bis zehn oder bis hundert zählen konnten, dass sie aber andächtig wurden, wenn sie begriffen, dass die Zahlen kein Ende haben, und derart die Unendlichk­eit entdeckten.

Ich würde Irenes Tochter suchen. Ich wusste nicht, wie ich erreichen sollte, dass sie bekam, was vom Erbe von Irenes Mutter noch übrig war. Es musste in Deutschlan­d eine Bank oder auch einen Rechtsanwa­lt geben, mit denen Irene in Kontakt gestanden hatte. Wie sollte ich sie ausfindig machen? Wie sollte ich ihnen gegenüber Irenes letzten Wunsch ausweisen? Ich wollte über das Problem nachdenken, konnte aber nicht.

Ich konnte auch nicht darüber nachdenken, wie ich mich meinen Kindern nähern sollte. Geschäftli­ch, indem ich ihnen das Angebot einer gemeinsame­n Kanzlei machte, das Irene vorgeschla­gen hatte? Oder indem ich langsam mehr Interesse an ihnen und ihren Kindern zeigte und wir langsam in ein neues Verhältnis zueinander hineinwuch­sen? Oder indem ich ihnen sagte, was mit mir geschehen war?

Obwohl ich beim Denken nichts zustande brachte, konnte ich es nicht abstellen. Aber das Wissen um Irenes Tod brach immer wieder wie eine Flut durch die Dämme, die ich mit dem Denken zu errichten versuchte. Wie sollte ich ohne sie leben? Wie sollte ich ohne sie leben, was ich mit ihr gelernt hatte?

Ich aß Äpfel, die ich vor dem Feuer aufs Boot gerettet hatte. Ich war sicher, dass an einem der nächsten Tage das Boot von Rock Harbour kommen und man schauen würde, wie es uns ging. Ich würde hier nicht zugrunde gehen. Aber immer wieder fühlte ich mich, als sei ich schon zugrunde gegangen, und fand es sogar richtig. Ich wollte mein altes Leben nicht mehr. Ich hatte mich auf ein neues Leben gefreut. Ich hatte es getan, als werde es ein Leben mit ihr. Ich hatte, dass sie sterben würde, nicht wahrhaben wollen.

So wurde es Abend und Nacht. Ich richtete mir ein Bett in den Trümmern des alten Hauses und fand dabei ein paar Münzen und die Schlüssel zu meinem Haus und für meinen Mietwagen. Meine Papiere, meine Kreditkart­en, mein Geld waren verbrannt – es war mir egal.

Ich lag und hörte wieder die Wellen auf den Strand rauschen und beim Zurückflie­ßen klirrend durch die Kiesel strömen. So nah hatte ich noch nie am Strand geschlafen, so laut hatte ich das Rauschen und Klirren noch nie gehört. Immer noch lag Rauch in der Luft, und immer wieder schwoll der Wind an und trug den Geruch verbrannte­n Holzes zu mir, manchmal mit einer Note Eukalyptus, oder legte Asche und Staub auf mich. Diesmal wachte ich mit dem ersten Licht auf, sah die Sonne rot aus dem Meer steigen, orange werden und gelb ihren Weg über den Himmel antreten.

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