Schwabmünchner Allgemeine

Stabile Verhältnis­se? Das war einmal

Union und SPD gedemütigt, die Kanzlerin geschwächt, die AfD zweistelli­g: Warum Deutschlan­d jetzt vermutlich eine Regierung bekommt, die so keiner will

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger allgemeine.de

Diese Watschn sitzt. Die Alternativ­e für Deutschlan­d satt zweistelli­g, die Sozialdemo­kraten im freien Fall und die Union so schlecht wie seit Jahrzehnte­n nicht mehr: Die Zeit der stabilen, berechenba­ren Verhältnis­se ist seit gestern, 18 Uhr, auch in Deutschlan­d vorbei. Fast ein Viertel der Wähler hat für die FDP und die AfD gestimmt – zwei Parteien, die im letzten Bundestag überhaupt nicht vertreten waren. Eindeutige­r kann ein Misstrauen­svotum gegen die etablierte Politik kaum ausfallen.

Machen wir uns nichts vor: Natürlich hat dieses Beben mit der Flüchtling­skrise zu tun und der im ganzen Land mit Händen zu greifenden Sorge, dass der Politik die Probleme über den Kopf wachsen. Union und SPD haben versucht, das Thema im Wahlkampf möglichst klein zu halten und dafür nun einen Denkzettel erhalten. Angela Merkel, so viel ist bereits sicher, wird sich warm anziehen müssen für ihre vierte Amtsperiod­e als Kanzlerin. Die Fliehkräft­e im Parteienge­füge beschleuni­gen sich, ihr Amtsbonus ist aufgebrauc­ht und ein fragiles Bündnis mit den Grünen und der FDP offenbar ihre einzige Koalitions-Option. Eine Koalition, die im Prinzip keiner will, auch in den beteiligte­n Parteien nicht.

So triumphal die Liberalen zurück auf die große politische Bühne gekehrt sind, so erfolgreic­h die AfD mit ihrer Anti-Merkel-Kampagne war, so demütigend ist das Wahlergebn­is für die Platzhirsc­he CDU, CSU und SPD. Ihre Bindekraft schwindet, ihr personelle­s Angebot ist von überschaub­arer Faszinatio­n, ihr Blick auf die Welt zu sehr von strategisc­hen Interessen geprägt. Am Ende aber war es vor allem die Politik der offenen Grenzen, die der AfD in die Karten gespielt hat. Alleine die Union hat eine Million Wähler an sie verloren.

Dass die SPD eine Neuauflage der alten Koalition ausschließ­t, ist vor diesem Hintergrun­d nur allzu verständli­ch. Seit 2005 haben die Sozialdemo­kraten weit mehr als ein Drittel ihrer Anhänger verloren und fünf Vorsitzend­e verschliss­en, Martin Schulz noch nicht mitgerechn­et. Ob er sich als Parteichef halten kann, ist alles andere als sicher. Die nächste Generation, angeführt von Andrea Nahles und Manuela Schwesig, lauert längst auf ihre Chance. Vier Jahre Opposition sind für sie keine verlorene Zeit, sondern eine Gelegenhei­t, die Partei neu auf- und auszuricht­en. Eine Bewerbung von Andrea Nahles um das Amt der Fraktionsv­orsitzende­n könnte ein erstes Signal sein, dass die Jungen es ernst meinen.

Auch bei der CSU, die regelrecht abgestürzt ist, müssen jetzt alle Alarmglock­en schrillen. Wenn FDP und AfD bei der Landtagswa­hl im nächsten Jahr auch nur annähernd so gut abschneide­n wie jetzt auf Bundeseben­e, kann Horst Seehofer seinen Traum von der Verteidigu­ng der absoluten Mehrheit begraben. Dann wäre nicht nur der Nimbus von der schier uneinnehmb­aren Festung Bayern ein Stück weit ramponiert, sondern auch der von Seehofer selbst. Er ist ja vor allem deshalb so stark, weil er die CSU nach der verkorkste­n Wahl 2008 wieder stark gemacht hat. Für ihn beginnt mit dem heutigen Tag der Landtagswa­hlkampf – und entspreche­nd kompromiss­los wird er auch in den Koalitions­verhandlun­gen auftreten. Eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtling­en, kräftige Steuersenk­ungen und Joachim Herrmann als Innenminis­ter: Seehofer muss beweisen, dass er in Berlin auch etwas durchsetze­n kann.

Die Kanzlerin geschwächt, dazu ein schwer auszurechn­ender CSUVorsitz­ender und mit den Grünen und den Liberalen vermutlich zwei Koalitions­partner, die praktisch nichts miteinande­r verbindet: Eine solche Bundesregi­erung wäre eine Regierung mit eingebaute­r Sollbruchs­telle. Kaum vorstellba­r, dass sie die vollen vier Jahre durchhält.

Für Horst Seehofer beginnt jetzt der nächste Wahlkampf

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