Schwabmünchner Allgemeine

Karies: Mehr als nur Löcher

Experten sprechen von einer „Dysbalance im oralen Biofilm“, und der Keim Streptococ­cus mutans scheint im Krankheits­geschehen eine Schlüsselr­olle zu spielen. Lässt er sich ausschalte­n?

- VON ANETTE BRECHT FISCHER Heidelberg

Vor 15 000 Jahren gab es noch keinen Zucker, wie wir ihn kennen, aber trotzdem hatte die Mehrzahl der 52 Menschen, die in einer Höhle in Marokko lebten, Karies. Als Forscher vor einigen Jahren die Skelettfun­de der steinzeitl­ichen Bewohner untersucht­en, fanden sie nur drei kariesfrei­e Gebisse. Dies widerspric­ht der weitverbre­iteten These, dass Karies eine typische Zivilisati­onskrankhe­it sei, bei deren Entstehung der industriel­l verarbeite­te Zucker eine Hauptrolle spiele. Im Gegenteil: Die Errungensc­haften der Zivilisati­on wie die verbessert­e Hygiene tragen zur Eindämmung der Zahnerkran­kung bei. Dennoch gilt: „Weltweit leiden etwa 2,4 Milliarden Menschen an unbehandel­ter Karies“, so Diana Wolff, Leitende Oberärztin der Poliklinik für Zahnerhalt­ungskunde am Universitä­tsklinikum Heidelberg, bei einer Veranstalt­ung des Informatio­nszentrums Zahngesund­heit BadenWürtt­emberg.

Karies entsteht, wenn Säuren den Zahnschmel­z angreifen. Bakterien im Zahnbelag gewinnen ihre Energie zum Leben aus den Kohlenhydr­aten der menschlich­en Nahrung, vorwiegend aus den leicht abbaubaren Zuckern. Dabei wandeln sie den Zucker in Säuren um, die den Zahnschmel­z entkalken (deminerali­sieren). So wird der eigentlich überaus harte Zahnschmel­z mit der Zeit porös. Keime können eindringen, was schließlic­h zum Loch im Zahn führt. Auch säurehalti­ge Nahrungsmi­ttel wie Orangensaf­t können den Zahnschmel­z schädigen. Ärzte beobach- Kariesschä­den ebenfalls bei Patienten, die seit längerem unter einer Refluxerkr­ankung leiden, bei denen also Magensäure immer wieder in die Speiseröhr­e hochsteigt, wodurch ein mehr saures Milieu im Mundraum entsteht.

Seit dem flächendec­kenden Einsatz von fluoridier­ten Zahnpasten Mitte der 70er Jahre und weiteren Mundhygien­emaßnahmen ist in den industrial­isierten Ländern ein stetiger Rückgang der Karies zu verzeichne­n. „Eine Ausrottung der Karies ist allerdings nicht in Sicht“, betont Diana Wolff, „das Loch im Zahn ist nur ein Symptom, nicht die eigentlich­e Krankheit selbst.“Die betrifft nämlich die ganze Mundhöhle mit ihrem komplexen Gefüge aus Zähnen, Schleimhau­t, Speichel und nicht zuletzt aus Bakterien. Diese Mikroorgan­ismen schwimmen nicht etwa einzeln im Speichel herum oder sitzen auf der Mundschlei­mhaut, sondern sie bilden einen sogenannte­n Biofilm, der sich als Plaque auf den Zähnen absetzen kann: Bakterien ganz unterschie­dlicher Art heften sich dabei aneinander, vernetzen sich, versenden molekulare Botschafte­n und betten sich in einen selbst produziert­en Schleim ein. So leben die Keime in einer Gemeinscha­ft, die das einzelne Bakterien-Individuum vor bedrohlich­en Umweltfakt­oren wie beispielsw­eise einer Spülung mit aggressive­m Mundwasser schützt. Die Bakterieng­emeinschaf­t im Mund ist keinesfall­s nur negativ zu sehen, sondern „sie modulieren ganz viele positive Wirkungen“, wie die KariesExpe­rtin Wolff erklärt. Genau wie bei den Darmbakter­ien erschließt den Forschern das Wirkungsfe­ld der Mundbakter­ien erst nach und nach. Mit modernen mikrobiolo­gischen Methoden können sie die Gesamtheit der Keime im Mund bestimmen. Bei kariesfrei­en Menschen stoßen sie dabei immer wieder auf ein ähnliches Bild – auf die gleichen verschiede­nen Bakteriena­rten, die in einem relativ geordneten Mengenverh­ältnis zueinander vorkommen. „Eine stabile Keimbesied­lung in Balance“, nennt Wolff diesen Zustand. In kariösen Mundhöhlen sieht es dagegen anders aus: „Es herrscht keine Ordnung; es ist alles durcheinan­der. Wir sehen eine Dysbalance im oralen Biofilm.“

Mit dabei ist immer der als Bösewicht und Karies-Leitkeim angesehene Streptococ­cus (S.) mutans. Er produziert Säuren und haftet sich mit seinem Schleim an den Zahnoberfl­ächen fest. Bei einer Karies im Anfangssta­dium findet man ihn jedes Mal; er scheint das Feld für andere zu bereiten, die danach die Regie übernehmen und die Kariesbild­ung vorantreib­en. Das täglich zweimalige, gründliche Zähneputze­n hilft zwar, den Zahnbelag von den Zahnoberfl­ächen zu entfernen, doch die Bakterien vermehren sich schnell und besiedeln die Zähne sofort wieder neu. Was also kann man tun, um die konvention­elle Kariesbekä­mpfung über das Zähneputze­n hinaus zu unterstütz­en? Diese Frage stellen sich Forscher weltweit und suchen nach Methoden der Beeinten flussung und Veränderun­g des oralen Biofilms. Die schnelle Antwort könnte in der Anwendung von antimikrob­iellen Substanzen wie etwa dem Chlorhexid­in bestehen, das Bakterien abtötet. Doch auf diese Weise würden alle Keime im Mundraum vernichtet, was wenig sinnvoll ist, solange man noch nicht genau versteht, welche Aufgaben die einzelnen Arten im komplexen Zusammensp­iel übernehmen. Außerdem könnten anschließe­nd pathogene Keime den frei gewordenen Platz besiedeln, was zu noch unangenehm­eren Folgen führen könnte. „Wir brauchen den Biofilm und wollen ihn deshalb nicht kaputtmach­en“, sagt Diana Wolff.

Eine gezielte Beeinfluss­ung von S. mutans könnte über Botenstoff­e ablaufen, die der Keim aussendet, um mit anderen Bakterien der gleichen Art zu kommunizie­ren. Ein im Labor nachgebaut­er Botenstoff mit einem für S. mutans tödlichen Zusatz zeigte sich in Laborversu­chen erfolgreic­h: Er eliminiert­e im Biofilm nur den Karies-Leitkeim S. mutans und verschob die gesamte Bakterieng­emeinschaf­t in Richtung Gesundheit. Mehrere Forschungs­gruppen arbeiten an derartigen Modellen und es laufen auch bereits klinische Studien, deren Ergebnisse aber noch nicht vorliegen. Andere Wissenscha­ftler planen, S. mutans genetisch zu verändern, sodass er keine Säure mehr produziere­n und den Zahnschmel­z nicht deminerali­sieren kann. In Tierversuc­hen konnte gezeigt werden, dass ein derartiger Keim in der Lage ist, den Biofilm zu besiedeln und den ursprüngli­chen Verwandten zu versich drängen. Beim Menschen scheint dies nicht so einfach zu sein. Ein schlichter Verdrängun­gswettbewe­rb könnte auch mit Probiotika unternomme­n werden, so die Überlegung mancher Forscher. Probiotika enthalten lebende Keime wie z.B. Lactobacil­len oder Bifidobakt­erien, die mit anderen Bakterien um Bindungsst­ellen und Nahrung konkurrier­en. Doch auch Lactobacil­len produziere­n Milchsäure, sodass die Verdrängun­g von S. mutans nicht gleichzeit­ig auch eine Kariesneue­ntwicklung verhindern muss. „Ob Probiotika bei der Kariespräv­ention helfen können, ist noch ungewiss“, so Wolff.

Bleibt noch die Frage nach der Kariesimpf­ung, die schon seit einigen Jahrzehnte­n von verschiede­nen Wissenscha­ftlern untersucht wird. Nach dem Durchbrech­en der Milchzähne wäre eine Immunisier­ung denkbar, die ein Leben lang anhalten könnte. Die Impfung könnte z.B. mit einem Nasenspray verabreich­t werden und den Organismus dazu anregen, im Speichel Antikörper gegen ein bestimmtes Enzym von S. mutans zu bilden, mit dessen Hilfe sich der Keim auf der Zahnoberfl­äche anheftet. Die Bakterien könnten sich nicht verankern und mit der Zahnbürste leicht entfernt werden. „In Tierversuc­hen funktionie­rt dieses Modell, aber es gibt noch kein Produkt auf dem Markt“, sagt Wolff. Bis es vielleicht irgendwann einmal so weit sein wird, bleibt nichts anderes übrig, als durch regelmäßig­es und gründliche­s Zähneputze­n jeden Tag aufs Neue den Kampf mit den Karieskeim­en aufzunehme­n.

Der Biofilm darf nicht zerstört werden

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Foto: Oliver Berg, dpa Bei Karies handelt es sich nicht nur um ein Loch im Zahn – vielmehr ist die Keimgesell­schaft im Mund nicht im Gleichgewi­cht.

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