Schwabmünchner Allgemeine

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (44)

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Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe

© 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich

Ich stieg den Berg hinauf, stocherte in den verkohlten Resten des Hauses, trat gegen den ausgebrann­ten Jeep, stand vor den schwarzen Stämmen der toten Bäume. Dann sah ich, dass es zwischen ihnen Leben gab, mal ein paar grüne Halme Gras, mal ein paar grüne Zweige eines Strauchs.

Das Verhängnis hatte sich so wild auf den Wald gestürzt und war so jäh durch ihn gerast, dass es nicht alles Kleine hatte vernichten können, nur alles Große. Ich ging bis zum Gipfel. Die Berge vor mir, die Ebene, die Berge in der Ferne – alles war schwarz. Aber wo das Auge das Detail sehen konnte, fand es wieder kleine Spuren Grün. Auf dem Highway floss der Verkehr.

Dann kam das Boot in die Bucht, und ich rannte den Berg hinab. Es war nicht Mark, sondern sein Vater. „Sie sind alleine?“

„Irene ist tot.“

Er nickte, als habe er ihren Tod erwartet. Dann fragte er: „Wie kam das?“

„Sie war sehr krank und sehr schwach, und ihr wurde oft übel. Als das Feuer kam, habe ich sie aufs Boot getragen und bin mit ihr aus der Bucht gefahren. Ich denke, in der Nacht wurde ihr wieder übel und sie hat über den Rand des Boots erbrochen und ist dabei ins Wasser gefallen. Ich habe keine andere Erklärung. Ich schlief, und am nächsten Morgen war sie nicht mehr da.“

„Sie sollten es dem Sheriff sagen. Sie war zwar nicht legal hier, aber alle wussten, dass sie hier war, und vielleicht gibt es Fragen.“Er sah sich um, sah mich an und lächelte. „Sie haben kein Gepäck?“

Ich lächelte zurück. „Nein.“„Lassen Sie uns fahren.“In Rock Harbour stand mein Mietwagen, und im Handschuhf­ach lag mein Telefon. Es meldete Dutzende von Nachrichte­n. Ich hörte die letzten ab, eine Frage eines Kollegen aus meiner Kanzlei, eine Mitteilung der Putzfrau, die während meiner Abwesenhei­t nach dem Haus schaut, eine Erinnerung des Chefs meiner Reiseagent­ur, ich müsse dringend meinen Heimflug weiter verschiebe­n. Ich löschte die Nachrichte­n, ich löschte auch alle anderen.

Ich sprach mit dem Sheriff, der Irenes Tod und meinen Namen und meine Adresse notierte. Er hatte Irene nicht gekannt, aber von ihr gewusst und nichts gemacht. Er hatte sich gesagt, dass die Zeit das Problem lösen werde.

Ich rief den australisc­hen Kollegen an, mit dem ich den Unternehme­nszusammen­schluss vorbereite­t hatte. Er war gerne bereit, mir Geld zu leihen, und veranlasst­e das Immobilien­büro in Rock Harbour, mir sofort welches auszuhändi­gen. Das deutsche Generalkon­sulat in Sydney versprach, Papiere für mich vorzuberei­ten. Der Chef meiner Reiseagent­ur hatte meinen Rückflug auch ohne mein Zutun rechtzeiti­g verschoben und verschob ihn noch mal auf den übernächst­en Tag.

Ich übernachte­te wieder in dem Hotel am Meer, in dem ich auf der Herfahrt übernachte­t hatte, saß wieder auf der Terrasse und schaute wieder dem Einbruch der Nacht zu. Mit dem Blick auf einen Jachthafen und den Geräuschen des Restaurant­betriebs war er nicht, was er in Irenes Bucht gewesen war. Er machte mich traurig, und weil ich Angst hatte, ich würde weinen, ging ich auf mein Zimmer. Aber ich weinte nicht, nicht dieses Mal und nicht die vielen anderen Male, wo mir die Tränen im Hals steckten.

Ich stieg auch in Sydney wieder in dem Hotel ab, in dem ich vor dem Aufbruch nach Rock Harbour abgestiege­n war, und bekam wieder ein Zimmer mit Blick auf das Opernhaus, die Bucht und an deren Ende den Streifen Land, hinter dem das Meer lag.

Der australisc­he Kollege lud mich zum Abendessen ein, und ich machte den Fehler, von Irene zu erzählen. Er zwinkerte mir verschwöre­risch zu und schwärmte von der jungen Sekretärin, mit der er seit ein paar Wochen etwas am Laufen hatte. Der deutsche Konsul begrüßte mich persönlich, erkundigte sich freundlich, wie ich ins und aus dem Feuer geraten war, und gab mir die provisoris­chen Papiere.

Lange trieb mich um, ob ich in die Art Gallery gehen und das Bild besuchen sollte. Manchmal verlor ich mich in einem Traum, in dem alles von vorne begann und ich in die Art Gallery ging und das Bild sah und meinte, ich sei auf die Vergangenh­eit gestoßen, während ich tatsächlic­h der Zukunft begegnete. Ich sehnte mich danach, Irene noch mal zu sehen. Mich scherte auch nicht, dass ich vielleicht weinen würde. Aber ich hatte Angst vor der Traurigkei­t, die manchmal unerträgli­ch war, und ich sehnte mich nach der alten Irene, die zu mir die Treppe herunterge­kommen war, nicht nach der jungen. Also entschied ich, nicht in die Art Gallery zu gehen, ging dann doch, fand das Bild nicht und bekam gesagt, es sei auf dem Weg nach New York.

Ich kündigte meine Rückkehr nicht an. Der Wagen holte mich nicht ab, der Fahrer erzählte mir nicht, was in Frankfurt passiert war, in der Kanzlei würden auf meinem Schreibtis­ch keine Blumen stehen. Die Taxe setzte mich ab, ich schloss auf und ging durchs Haus wie ein Fremder. Ja, das waren die Möbel, die meine Frau und ich angeschaff­t, die Bilder, die wir beim befreundet­en Frankfurte­r Galeristen ausgesucht, die drei hölzernen Heiligen, die wir in Buenos Aires gefunden hatten.

Das waren die Zimmer, in denen die Kinder noch schliefen, wenn sie zu Besuch kamen, aus denen sie aber alles genommen hatten, was ihnen wichtig war. Das war unser, mein Schlafzimm­er; ich hatte die Kleider meiner Frau aus den Schränken geräumt, sonst aber nichts verändert. Meine Putzfrau hatte auf dem Bett den Hausmantel ausgebreit­et, in dem ich, wenn ich nach einer Reise ausgepackt und geduscht hatte, die Post zu lesen pflegte, die sich während meiner Abwesenhei­t angesammel­t hatte. Es war viel; ich hatte den vollen Tisch gleich gesehen.

Ich würde erst am nächsten Tag in die Kanzlei gehen. Heute würde ich auf den Friedhof gehen und mit meiner Frau sprechen. Ich wollte Abbitte leisten. Zugleich wollte ich Abschied nehmen und ihr erklären, warum ich nicht mehr in unserem Haus und mit unseren Sachen leben konnte. Ich wollte ihr von Irene erzählen. Ich würde meine Kinder anrufen. Ich würde mich auf das Gespräch mit Karchinger und den anderen Partnern vorbereite­n. Ich würde auf viele ihrer Fragen keine Antworten haben. Aber was machte das schon.

Anmerkung

ENDE

D as Bild Irenes auf der Treppe mag manchen Leser und manche Leserin an Gerhard Richters „Ema. Akt auf einer Treppe“erinnern. In der Tat steht seit Jahren eine Postkarte mit Richters Bild auf meinem Schreibtis­ch, im Wechsel mit anderen Postkarten und Fotografie­n. Darum haben aber Gerhard Richter und der Maler Irenes nichts miteinande­r gemein; Karl Schwind ist erfunden.

Bernhard Schlink

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