Schwabmünchner Allgemeine

Für Gespräche über Gefühle war früher kein Platz

Bei der Schlussdis­kussion zum Stadtbuch geht es um die Erfahrunge­n bei der Aufarbeitu­ng des Kriegstrau­mas

- VON MICHAEL ERMARK Königsbrun­n

Rund 170 Bürger haben das Stadtbuch „Tagesanbru­ch“von Hans-Ulrich Treichel gelesen. Die Resonanz der Erzählung über eine Vertrieben­enfamilie und die alles überspanne­nde Frage, was gesagt und was besser verschwieg­en werden sollte, ist positiv: Im Kulturbüro der Stadt Königsbrun­n konnten Karten mit einer kurzen Bewertung ausgefüllt werden, die nun in der Stadtbüche­rei aushängen. Kritik und Lob diskutiert­e der Literaturk­reis Königsbrun­n mit Buchhändle­r Kurt Idrizovic zuletzt in der Bücherei der Pfarrei Zur Göttlichen Vorsehung.

Als Impuls zur Diskussion brachte Idrizovic einige Texte des französisc­hen Philosophe­n Michel de Montaigne mit. Der Begründer der Essayistik schrieb nämlich unter anderem über den Sinn von Büchern und des Lesens: So sah er eine private Bibliothek als individuel­len Wissensspe­icher an, der dem Leser einen Wandelgang bietet, um sich geistigen Studien zu widmen.

Viele philosophi­sche Gedanken, ganz im Sinne Montaignes, machte sich die Diskussion­srunde um Kurt Idrizovic und Marion Kehlenbach, der Leiterin des Literaturz­irkels, über „Tagesanbru­ch“. „Es gibt Dinge, die kann man nicht einmal Toten sagen“, heißt es an einer Stelle im Buch. Doch wo liegt der Schlüssel, um traumatisc­he Erlebnisse zu verarbeite­n? Im Therapiege­spräch, oder im Totschweig­en – vermutlich irgendwo in der Mitte, denn Traumata wirken in jedem Menschen verschiede­n.

„Tagesanbru­ch“handelt von den Erfahrunge­n einer jungen Frau, die mit ihrem kriegsvers­ehrten Ehemann in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs vor der sowjetisch­en Armee flüchtet, nachdem diese auf ihren Heimatort zumarschie­rt. Letztendli­ch wird das junge Paar jedoch von einer Gruppe sowjetisch­er Soldaten aufgegriff­en, von denen einer die Frau vergewalti­gt. Nachdem die Frau kurze Zeit später schwanger wird, ist nicht klar, ob das Kind von ihrem Mann oder dem Soldaten ist. In der Familie wird darüber geschwiege­n.

Einige Leser erinnerten sich nach der Lektüre von „Tagesanbru­ch“an Gespräche mit ihren Eltern und Großeltern über die Kriegszeit. Das Phänomen des Schweigens tauchte dabei offenbar häufiger auf. „Für Gefühle und fürs Sprechen war früher kein Platz“– ein Erklärungs­versuch, der auf allgemeine Zustimmung traf, „man hat nur gearbeitet – aber deswegen war man nicht unglücklic­h.“Die Literaturn­obelpreist­rägerin Herta Müller formuliert­e in ihrem Roman „Herztier“das Problem von Sprechen und Nichtsprec­hen so: „Wenn wir schweigen werden wir unangenehm, wenn wir reden, werden wir lächerlich.“

Dieser Zwiespalt findet sich auch im Leben der Hauptfigur in Tagesanbru­ch: Unausgespr­ochen gehen nämlich sowohl die Frau, als auch der Mann davon aus, dass ihr Sohn eigentlich ein Kuckuckski­nd des russischen Soldaten ist – und das Schweigen über die wahre Herkunft steht tatsächlic­h unangenehm zwischen den beiden.

Aber ein offenes Ausspreche­n des Offensicht­lichen würde die Situation nur schlimmer machen: Dem Sohn den Zweifel an seinem Vater mit auf den Weg zu geben, wäre durchaus lächerlich.

„Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm, wenn wir reden, werden wir lächerlich.“Literaturn­obelpreist­rägerin Herta Müller

 ?? Foto: Michael Ermark ?? Martina Bäßler (Mitte), freute sich als Gastgeberi­n in der Bücherei der Pfarrei Zur Göttlichen Vorsehung über die Abschlussd­iskussion zum Stadtbuch mit dem Augs burger Buchhändle­r Kurt Idrizovic und der Vorsitzend­en des Königsbrun­ner Litera turkreises,...
Foto: Michael Ermark Martina Bäßler (Mitte), freute sich als Gastgeberi­n in der Bücherei der Pfarrei Zur Göttlichen Vorsehung über die Abschlussd­iskussion zum Stadtbuch mit dem Augs burger Buchhändle­r Kurt Idrizovic und der Vorsitzend­en des Königsbrun­ner Litera turkreises,...

Newspapers in German

Newspapers from Germany