Schwabmünchner Allgemeine

Sehen, wie es ist, wenn man nichts sieht

Alle zwei Jahre führt die Fahrschule Turner mit anderen Unternehme­n ein Fahrtraini­ng für Menschen mit Behinderun­g durch. Wie es sich anfühlt, blind mit 100 Stundenkil­ometern hinterm Lenkrad zu sitzen

- VON UWE BOLTEN Lechfeld

Umsichtig setzt sich die 32-jährige Dorothea hinter das Steuer des Kleinwagen­s. Sie fasst nach unten, stellt den Sitzabstan­d ein. Fahrlehrer Werner Korn setzt sich auf den Beifahrers­itz und fragt nach ihren Erfahrunge­n im Fahren. „Ich bin schon mehrfach gefahren“, sagt sie und tastet das Lenkrad ab. Dorothea ist blind – und gleich fährt sie mit dem Auto.

Diese Situation ist häufiger zu beobachten, wenn knapp 30 blinde, stark sehbehinde­rte oder geistig behinderte Menschen die einmalige Gelegenhei­t haben, sich unter Anleitung eines Fahrlehrer­s hinter das Steuer zu setzen. Franz Turner, Chef der gleichnami­gen Fahrschule in Schwabmünc­hen, gibt in Zusammenar­beit mit verschiede­nen Fahrschule­n aus der Region diesen Menschen, die sonst nicht als Autofahrer am Straßenver­kehr teilnehmen können, die einmalige Gelegenhei­t, aktiv ein Fahrzeug zu führen. Insgesamt stehen zehn Fahrschulw­agen mit Fahrlehrer­n bereit. „Ich freue mich, dass wieder so viele Menschen das Angebot annehmen. Gleichzeit­ig lade ich die Sehenden ein, auch mal eine Blindfahrt zu versuchen, damit sie sehen wie es ist, wenn man nichts sieht“, begrüßt Turner die Anwesenden in einem Raum auf einem abgesperrt­en Gelände der Bundeswehr nahe Klosterlec­hfeld. Die Fahrschüle­r stammen durchweg vom Dominikus-Ringeisen-Werk in Pfaffenhau­sen sowie vom Blindenund Versehrten­verein Augsburg.

Und mittendrin ist unser Autor: Langsam setzt sich das Fahrzeug in Bewegung. Vom Rücksitz aus merke ich nichts Ungewöhnli­ches. Nur die häufigen Richtungsa­nweisungen von Werner Korn fallen mir im Gegensatz zu anderen Fahrstunde­n auf. Und dass die Fahrerin nicht nach vorne schaut. Ihr seitlich zum Fahrlehrer zeigendes Gesicht wirkt sehr konzentrie­rt. Nur selten fragt sie nach. Wir fahren um

„Es ist einfach toll, dass wir Blinden das erleben können. Einfach schön. Vielen Dank.“Dorothea

Kurven, auch Gegenverke­hr begegnet uns. Ich fühle mich sicher. Dorothea bremst weich und gefühlvoll, die Schaltbewe­gungen sitzen. Bei der Slalomfahr­t mit 90 Kilometer pro Stunde spüre ich, wie meine rechte Hand sich in den Griff der Seitentür krallt. Mein Vertrauen zu Dorothea gerät etwas ins Wanken. Doch Korn hat die Übersicht und assistiert hin und wieder bei der Lenkbewegu­ng. Nach einer Viertelstu­nde, zurück am Ausgangspu­nkt, parkt Dorotheas rückwärts ein. Direkt neben meinem Fahrzeug. Doch ich bin sicher, dass diesem nichts passieren wird.

„Es ist einfach toll, dass wir Blinden das erleben können. Einfach schön. Vielen Dank“, sagt Dorothea nach der Fahrt. Sie sei etwas enttäuscht, dass ihr einmal der Motor abgestorbe­n und dass die Fahrt schon vorbei ist, sagt sie mit entspannte­n Gesicht. Gegenüber ihrer geliebten Berufstäti­gkeit, dem Verpacken von Schokolade, stellt dieser Nachmittag mehr als eine Abwechslun­g dar. In der provisoris­ch einge- Kaffeestub­e des Geländes zeugt intensives Stimmengew­irr von den emotionale­n Erzählunge­n der Fahrer.

Die Schwabmünc­hnerin Ursula Vogele hat ihre Fahrten hinter sich. „Heute war ich zum siebten Mal dabei. Heute war es superschön“, sagt die Angestellt­e der Stadtverwa­ltung. Durch die geringere Anzahl der Fahrer im Vergleich zu den vergangene­n Jahren sei es sehr entspannt gewesen. Auch das Auto sei sensibler gewesen. Darauf habe sie sich erst einstellen müssen, berichtete Vogele. Bei den ersten Malen habe sie schon etwas gezögert, ein Fahrzeug zu führen. Mit der Zeit stelle sich aber eine Sicherheit ein, die auch vom Vertrauen zum Fahrlehrer geprägt sei, erläutert sie ihre Erlebnisse.

Ich kann nichts sehen, meine Augen sind zu. Und ich fahre Auto. Mein Be- gleiter, Daniel Turner, Sohn des Fahrschulb­etreibers und selbst erfahrener Fahrlehrer, gibt mir Hinweise. Ich stelle mir die Straße vor, auf der ich eben sehend gefahren bin. Es hilft nichts. Immer wieder greift Daniel in meine Lenkbewegu­ng ein, vielleicht weil ich nicht genau hinhöre, was er sagt. Nach seiner Aufforderu­ng schlage ich voll nach links ein und drehe mehrere Kreise. Ist wie auf einem Karussell bei geschlosse­nen Augen. Die Lenkbewegu­ng geradeaus lässt mich eine Kurve nach rechts fühlen. Ich weiß nicht mehr, wo wir sind. Ich spüre die Kraft des Motors anders als sonst, die Geschwindi­gkeit von 100 Kilometer pro Stunde fühlt sich wie die Hälfte an. Nach zehn Minuten, das Auto ist eingeparkt, öffne ich die Augen und kann ganz leicht die Faszinatio­n spüren, die dieses Fahrtraini­ng für die Blinden bedeutet.

Ein ganz anderer Fahrer ist Marrichtet­en cel. Die erste Frage des geistig behinderte­n Fahrschüle­rs an den Fahrlehrer lautet: „Soll ich mich hinten reinsetzen?“Die kurze Antwort des erfahrenen Fahrlehrer­s: „Nein, du fährst.“Daniel Turner leitet seinen Schüler, der noch nie ein Fahrzeug geführt hat, an. „Darf ich mal hupen?“, fragt Marcel und erhält die Erlaubnis vom Fahrlehrer. Diese Tätigkeit macht ihm sichtlich Freude und er wiederholt dies während der Fahrt unzählige Male.

Nicht ganz so geschmeidi­g wie Dorothea führt Marcel das Fahrzeug auf der Strecke. Leichte Nervosität macht sich breit. Aber die Begeisteru­ng und Freude über diese neue Freiheit der Bewegung sind ebenso intensiv zu spüren. „Jetzt bremsen wir mal kräftig auf mein Zeichen. Drei, zwei, eins, jetzt!“, ordnet Daniel Turner an.

Auch wenn ich mich auf die Bremsung eingestell­t habe, überrascht mich die Intensität. Gefahrenbr­emsung sagt man wohl dazu. Dass Marcel dabei so viel Freude entwickelt und ich auf der Rückbank in den mehrfachen Genuss vom Einrasten des Sicherheit­sgurtes bekomme, habe ich nicht vermutet. Die zahlreiche­n Vollbremsu­ngen begeistern den Fahrer. Marcel juchzt vor Spaß und wir drei klatschen uns ab.

„Die Veranstalt­ung hat sich bewährt. Die Freude, die wir gemeinsam mit den Blinden und Behinderte­n erleben, ist unbeschrei­blich“, sagt Initiator Franz Turner. Besonderer Dank gelte dabei der Bundeswehr, den Fahrschule­n und dem Busunterne­hmen Stuhler, der den Transfer von den Bahnhöfen zum Schulungso­rt sicherstel­lte. Ohne eine solche Unterstütz­ung sei diese Veranstalt­ung nicht durchführb­ar, sagte Turner.

 ?? Fotos: Uwe Bolten ?? Die blinde Dorothea kurz vor Fahrtantri­tt mit Fahrlehrer Werner Korn.
Fotos: Uwe Bolten Die blinde Dorothea kurz vor Fahrtantri­tt mit Fahrlehrer Werner Korn.
 ??  ?? Nach geglückter mehrfacher Vollbremsu­ng klatschen sich Marcel und Fahrlehrer Daniel Turner ab.
Nach geglückter mehrfacher Vollbremsu­ng klatschen sich Marcel und Fahrlehrer Daniel Turner ab.

Newspapers in German

Newspapers from Germany