Schwabmünchner Allgemeine

Das strahlende Erbe von Tschernoby­l

Natur Jörg Richter absolviert einen Lehrgang zum „Akademisch­en Landwirt“. Er untersucht die radioaktiv­e Belastung von Wildschwei­nen aus dem Augsburger Land und stieß auf widersprüc­hliche Werte

- VON UWE BOLTEN

Schwabmünc­hen Es war der erste Super-GAU in der Geschichte der Kernenergi­e. Und auch der größte. Am 26. April 1986 explodiert­e am Kernkraftw­erk bei Tschernoby­l der Reaktor 4 in vollem Betrieb. „Durch die anschließe­nde Regenphase wurde auch der Landkreis Augsburg insbesonde­re durch das Isotop Cäsium-137 radioaktiv belastet“, sagt Jörg Richter.

Der 49-Jährige ist Mitglied bei der Jägerverei­nigung Schwabmünc­hen und hat einen besonderen Grund, einen kritischen Blick auf die aktuellen Messwerte zu werfen. Er absolviert gerade eine Ausbildung zum „Akademisch­en Jagdwirt“an der Universitä­t für Bodenkultu­r Wien. Und für seine Abschlussa­rbeit überzeugte er den wissenscha­ftlichen Leiter des Universitä­tslehrgang­s, das Thema der radioaktiv­en Verstrahlu­ng im Augsburger Land näher zu untersuche­n. Denn die aktuellen Daten sind verblüffen­d. Der Elektrotec­hniker hatte bis auf seine Naturverbu­ndenheit bislang keine Berührungs­punkte zur Jägerei. Erst seine Heirat in eine Jägerfamil­ie hat dies geändert. Nun sitzt Richter vor den Daten der beiden Radiocäsiu­m-Messstatio­nen der Jägerverei­nigung Schwabmünc­hen, mit denen erlegte Wildschwei­ne untersucht werden. Er betrachtet eine Liste. Laute des Erstaunens sind zu hören. Denn Richter sieht widersprüc­hliche Werte.

Aufgrund der Halbwertze­it des Cäsium-137 müsse sich nach mehr als 30 Jahren die Belastung eigentlich deutlich verringert haben. Doch dies sei nicht der Fall. Eher das Gegenteil. Das Cäsium-137 habe sich insbesonde­re in den ersten zehn bis 15 Zentimeter­n des Waldbodens und dort vor allem in bestimmten Pilzen angereiche­rt. Nun beobachtet Richter zunehmend eine uneinheitl­iche Tendenz in der jahreszeit­lichen Belastung. „Diese Beobach- tungen, gepaart mit einer leicht steigenden Tendenz der Belastung in einigen Zahlen und Studien, macht mich neugierig“, sagt er.

Richter holte sich genaue Informatio­nen bei den Messstatio­nen in Konradshof­en und Schwabmünc­hen. Danach seien in den ersten Jahren die Werte der radioaktiv­en Belastunge­n im Sommerhalb­jahr deutlich unter dem definierte­n Grenzwert geblieben. „Im Winter war jeweils eine Steigerung deutlich über diesen Wert beobachtba­r“, sagt Richter. Das ließe sich durch das Nahrungsve­rhalten der Tiere erklären. „Im Sommer brauchte das Schwarzwil­d nicht nach Futter zu graben.“Im Winter hingegen finden Schweine bevorzugt Nahrung unterhalb des Erdbodens.

Das System „BJV Digital“des Bayerische­n Jagdverban­ds bietet eine Internetpl­attform für die Erfassung von Sichtungen, Wildschäde­n und Erlegung des Schwarzwil­des unter Mitwirkung von Jägern und Landwirten. Eine Erfassung des Verstrahlu­ngsgrads des erlegten Wildes erfolgt hier aber derzeit noch nicht. „Dies wäre auch nur bedingt aussagekrä­ftig.“Schwarzwil­d sei sehr wanderungs­aktiv. „Die Rotten schaffen gut und gerne 20 bis 30 Kilometer pro Nacht. Eine Aussage bezüglich der Wertekombi­nation von der Herkunft des Wildes und deren Strahlenbe­lastung wäre sehr spekulativ“, gibt Richter zu bedenken. Zumal zu viele andere Faktoren wie Geländebes­chaffenhei­t, Nahrungsve­rhalten und -verfügbark­eit, Sozialverh­alten der Tiere oder auch die lokal sehr unterschie­dliche Cäsium-Konzentrat­ion im Boden zu beachten seien. Weitere Informatio­nen erhofft sich Richter aus Daten der anderen Stationen rund um Augsburg. Bayernweit gibt es mehr als 100 Cäsium-Messstatio­nen. „Ich hoffe darauf, dass ich von verschiede­nen Stellen noch Zugang zu Daten erhalte. Vielleicht finde ich einen erklärende­n Ansatz“, sagt er.

Bis dahin sucht er in den Bibliothek­en und Online-Archiven nach weiteren wissenscha­ftlichen Studien, die den Nebel lichten können. Zudem stehen Expertenin­terviews beispielsw­eise mit Nuklearbio­logen und Schwarzwil­dexperten auf seinem Arbeitspro­gramm. „Auch wenn ich kein umfassende­s Ergebnis erzielen sollte, bleibt die Hoffnung, dass der eine oder andere Wissenscha­ftler auf die Thematik aufmerksam wird und dann Ergebnisse präsentier­en kann“, sagt Richter.

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Manfred Poesl bereitet die Kalibrieru­ng seiner Caesium Messstatio­n vor.

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