Nur im Ganzen versteht man gut
Sensemble Theater Tausendfach zitiert und damit im Grund zerstört: „Der kleine Prinz revisited“setzt genau dort an
Antoine de Saint-Exupérys kleiner Prinz leidet. Seit Jahrzehnten, seit dieses Märchen 1943 in den USA erschienen ist, wird die Geschichte grob zerlegt. Die Einzelteile verbrauchen sich in harmlosen Sprüchlein für Hochzeitskarten, Poesiealben und Wandtattoos. Das berühmte „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ist durch seinen inflationären Gebrauch eine leere Allgemeingültigkeit geworden, eine Binsenwahrheit, die im jeweiligen Zusammenhang alles bedeuten kann. So entstehen Plattitüden, die nicht mehr infrage gestellt und munter zitiert werden.
Den kleinen Prinzen aus diesem Schicksal zu befreien, daran versucht sich das Sensemble-Theater in Augsburg mit „Der kleine Prinz revisited“anhand schlichtester Mittel. Was durch die englische Beigabe im Titel eine Neufassung oder Theateradaption des Stoffes vermuten lässt, ist in Wahrheit die Lesung des leicht gekürzten Originaltextes. Auf der Bühne steht vor dem Notenständer Autor und Schauspieler Christian Krug und trägt den Text vor. Wenn der kleine Prinz spricht, verleiht Krug ihm keine übermäßig kindliche Stimmlage. Das ist richtig, andernfalls würde der Prinz läppisch klingen und seine Aussagen an Wirkkraft einbüßen. Auch die anderen Figuren, vom Eitlen bis zur Schlange und dem Fuchs deutet Krug meist nur mit der Stimme an, gespielt werden die Personen kaum.
Nicht begleitend, sondern mitspielend verfährt der Jazzmusiker Wolfgang Lackerschmid, der das Surreale des Märchens aufgreift und mit sphärischen Klängen auf seinem Vibrafon mehrt. Dabei widerstehen Musiker und Schauspieler größtenteils der Versuchung, in direkten Dialog zu treten, worüber man nur dankbar sein kann. Die Sprache steht im Vordergrund und sie spricht an, ohne dass die beiden Männer auf der Bühne dafür Blickkontakt herstellen oder in Gegenrede verfallen müssten. Die in pastellfarbenes Licht gelegte Spielfläche kommt mit minimalistischem Bühnenbild aus, nur an die Hinterwand werden Illustrationen geworfen, die dicht an den Original-Zeichnungen Saint-Exupérys bleiben.
Worin der Rettungsversuch vor dem Aushöhlen des Textes auszumachen ist? Darin, dass Regisseurin Gianna Formicone auf jegliches Beiwerk oder jegliche Umdichtung des Stoffes verzichtet. Schon genug wurde das Märchen in seiner langen Rezeptionsgeschichte zur bloßen Selbstverwirklichung herangezogen und damit missbraucht. Von Theaterfassungen und Filmen, Comics bis hin zu Musicals sind alle bekannten Darbietungsformen vertreten – und bei weitem nicht jeder Adaptionsversuch gilt als gelungen.
Durch die Form der schlichten Lesung des Textes erinnert sich der Zuschauer, dass all die herausgegriffenen prominenten Sätze einer Komposition zugehören, die weit mehr als nur Wohlfühl-Poesie bereithält, nämlich Weltliteratur, die durchaus mit scharfer Konsumkritik und Tadel an menschlichen Eitelkeiten aufwartet. Es fällt nicht schwer, sich hierbei tatsächlich erkannt und getroffen zu fühlen. Bequem jedenfalls ist das nicht.
Und so kommt „Der kleine Prinz revisited“aufgrund der reduzierten Vorführung auf der Bühne erst einmal harmloser daher, als das, was sich dann an dem Abend tatsächlich entfaltet: eine stimmungsvoll vertonte Lesung, die den literarischen Ursprung des Werks freilegt. Nur Theater bekommt man an diesem Abend im Sensemble-Theater keines zu sehen.