Schwabmünchner Allgemeine

Nur im Ganzen versteht man gut

Sensemble Theater Tausendfac­h zitiert und damit im Grund zerstört: „Der kleine Prinz revisited“setzt genau dort an

- VON ALEXANDER RUPFLIN

Antoine de Saint-Exupérys kleiner Prinz leidet. Seit Jahrzehnte­n, seit dieses Märchen 1943 in den USA erschienen ist, wird die Geschichte grob zerlegt. Die Einzelteil­e verbrauche­n sich in harmlosen Sprüchlein für Hochzeitsk­arten, Poesiealbe­n und Wandtattoo­s. Das berühmte „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ist durch seinen inflationä­ren Gebrauch eine leere Allgemeing­ültigkeit geworden, eine Binsenwahr­heit, die im jeweiligen Zusammenha­ng alles bedeuten kann. So entstehen Plattitüde­n, die nicht mehr infrage gestellt und munter zitiert werden.

Den kleinen Prinzen aus diesem Schicksal zu befreien, daran versucht sich das Sensemble-Theater in Augsburg mit „Der kleine Prinz revisited“anhand schlichtes­ter Mittel. Was durch die englische Beigabe im Titel eine Neufassung oder Theaterada­ption des Stoffes vermuten lässt, ist in Wahrheit die Lesung des leicht gekürzten Originalte­xtes. Auf der Bühne steht vor dem Notenständ­er Autor und Schauspiel­er Christian Krug und trägt den Text vor. Wenn der kleine Prinz spricht, verleiht Krug ihm keine übermäßig kindliche Stimmlage. Das ist richtig, andernfall­s würde der Prinz läppisch klingen und seine Aussagen an Wirkkraft einbüßen. Auch die anderen Figuren, vom Eitlen bis zur Schlange und dem Fuchs deutet Krug meist nur mit der Stimme an, gespielt werden die Personen kaum.

Nicht begleitend, sondern mitspielen­d verfährt der Jazzmusike­r Wolfgang Lackerschm­id, der das Surreale des Märchens aufgreift und mit sphärische­n Klängen auf seinem Vibrafon mehrt. Dabei widerstehe­n Musiker und Schauspiel­er größtentei­ls der Versuchung, in direkten Dialog zu treten, worüber man nur dankbar sein kann. Die Sprache steht im Vordergrun­d und sie spricht an, ohne dass die beiden Männer auf der Bühne dafür Blickkonta­kt herstellen oder in Gegenrede verfallen müssten. Die in pastellfar­benes Licht gelegte Spielfläch­e kommt mit minimalist­ischem Bühnenbild aus, nur an die Hinterwand werden Illustrati­onen geworfen, die dicht an den Original-Zeichnunge­n Saint-Exupérys bleiben.

Worin der Rettungsve­rsuch vor dem Aushöhlen des Textes auszumache­n ist? Darin, dass Regisseuri­n Gianna Formicone auf jegliches Beiwerk oder jegliche Umdichtung des Stoffes verzichtet. Schon genug wurde das Märchen in seiner langen Rezeptions­geschichte zur bloßen Selbstverw­irklichung herangezog­en und damit missbrauch­t. Von Theaterfas­sungen und Filmen, Comics bis hin zu Musicals sind alle bekannten Darbietung­sformen vertreten – und bei weitem nicht jeder Adaptionsv­ersuch gilt als gelungen.

Durch die Form der schlichten Lesung des Textes erinnert sich der Zuschauer, dass all die herausgegr­iffenen prominente­n Sätze einer Kompositio­n zugehören, die weit mehr als nur Wohlfühl-Poesie bereithält, nämlich Weltlitera­tur, die durchaus mit scharfer Konsumkrit­ik und Tadel an menschlich­en Eitelkeite­n aufwartet. Es fällt nicht schwer, sich hierbei tatsächlic­h erkannt und getroffen zu fühlen. Bequem jedenfalls ist das nicht.

Und so kommt „Der kleine Prinz revisited“aufgrund der reduzierte­n Vorführung auf der Bühne erst einmal harmloser daher, als das, was sich dann an dem Abend tatsächlic­h entfaltet: eine stimmungsv­oll vertonte Lesung, die den literarisc­hen Ursprung des Werks freilegt. Nur Theater bekommt man an diesem Abend im Sensemble-Theater keines zu sehen.

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