Schwabmünchner Allgemeine

Er war seiner Zeit voraus

Geschichte Friedrich List forderte schon 1840 ein System offener Märkte. In Augsburg verfasste er dazu ein wichtiges Schriftstü­ck. Welche Bedeutung es heute laut Experten noch immer hat

- VON ANDREAS ALT

Er zählt zu den Propheten, die im eigenen Land nichts galten: Friedrich List war einer der bedeutends­ten Wirtschaft­swissensch­aftler des 19. Jahrhunder­ts. Er hatte enge Beziehunge­n zu Augsburg. Hier arbeitete er für die Allgemeine Zeitung und schrieb sein Hauptwerk: „Das nationale System der politische­n Ökonomie“– daran erinnert heute eine Gedenktafe­l am Holbeinpla­tz. Aus seiner Vision eines einheitlic­hen deutschen Wirtschaft­sraums wurde zu Lists Lebzeiten nicht viel. Doch heute ist die Welt eine andere. Aus Sicht von Peter Lintner, Leiter Standortpo­litik bei der IHK Schwaben, und des Lehrstuhli­nhabers für Volkswirts­chaftslehr­e der Uni Augsburg, Peter Welzel, hat List angesichts der gegenwärti­gen Krise der EU noch viel zu sagen.

Europa ist heute ein weitgehend einheitlic­her Wirtschaft­sraum, aber nicht ohne Probleme. Zunehmend sind auseinande­rtreibende Kräfte zu beobachten: Großbritan­nien hat seinen Austritt aus der EU beschlosse­n, östliche Länder werden zu autoritäre­n Staaten und verweigern sich der europäisch­en Solidaritä­t. Da empfiehlt es sich, wie Lintner und Welzel sagen, sich wieder mit List zu beschäftig­en.

Der größere Markt der EU nützt allen: Es wird mehr produziert, durch die größeren Stückzahle­n kann billiger produziert werden, und davon haben alle etwas: Branchen, einzelne Unternehme­n, die Kapitalgeb­er, die Beschäftig­ten und durch den größeren Volkswohls­tand selbst die sozial Benachteil­igten. List hat das zu seiner Zeit für Deutschlan­d gefordert; der Gedanke ist aber nicht nur typisch List, sondern herrschend­e Lehre.

Ganz unzweifelh­aft hat List jedoch hohe Verdienste um den Ausbau einer Infrastruk­tur, die die Wirtschaft voranbring­t. Das war damals in erster Linie die Eisenbahn, für die er sich gegen viele Widerständ­e unermüdlic­h einsetzte. „Der Eisenbahnb­au in Deutschlan­d ging wahnsinnig schnell“, sagte Lintner, „da wurde in langen Korridoren gedacht.“Auch heute noch wäre da etwas zu tun: Innerhalb der EU müssen die Vertaktung im Personenve­rkehr verbessert und das Stromsyste­m der Bahnlinien vereinheit­licht werden.

Zur Infrastruk­tur gehören noch viele andere Dinge, insbesonde­re das Bildungssy­stem, heute auch ein Leitungsne­tz für die Digitalisi­erung, wie Lintner und Welzel übereinsti­mmend sagten. Im Bemühen um einen größeren und besser funktionie­renden Wirtschaft­sraum gebe es allerdings im Zuge des Strukturwa­ndels stets Gewinner und Verlierer. Manche Branchen können die Liberalisi­erung und Integratio­n der Märkte für einen Aufschwung nutzen, andere werden nicht mithalten. „Aber die Gewinne der Gewinner werden immer größer sein als die Verluste der Verlierer“, betonte Welzel.

Das ist freilich nicht so einfach. Lintner verwies auf die Automobili­ndustrie. Der Dieselskan­dal hat deutlich gemacht, dass der Strukturwa­ndel sie erheblich beschädige­n könnte. Dabei stehen aber hunderttau­sende Arbeitsplä­tze und eine grundlegen­de Quelle des deutschen Wohlstands auf dem Spiel. Trotzdem bleibe Lists Bemühen um offenere Märkte grundsätzl­ich richtig: „Sollte es einem abgeschott­eten Bulgarien oder Rumänien besser gehen?“, fragte Welzel. „Ich glaube nicht.“

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Foto: Heimatmuse­um Reutlingen Friedrich List, gemalt in Öl von seiner Tochter.
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Peter Welzel
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Peter Lintner

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