Er war seiner Zeit voraus
Geschichte Friedrich List forderte schon 1840 ein System offener Märkte. In Augsburg verfasste er dazu ein wichtiges Schriftstück. Welche Bedeutung es heute laut Experten noch immer hat
Er zählt zu den Propheten, die im eigenen Land nichts galten: Friedrich List war einer der bedeutendsten Wirtschaftswissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Er hatte enge Beziehungen zu Augsburg. Hier arbeitete er für die Allgemeine Zeitung und schrieb sein Hauptwerk: „Das nationale System der politischen Ökonomie“– daran erinnert heute eine Gedenktafel am Holbeinplatz. Aus seiner Vision eines einheitlichen deutschen Wirtschaftsraums wurde zu Lists Lebzeiten nicht viel. Doch heute ist die Welt eine andere. Aus Sicht von Peter Lintner, Leiter Standortpolitik bei der IHK Schwaben, und des Lehrstuhlinhabers für Volkswirtschaftslehre der Uni Augsburg, Peter Welzel, hat List angesichts der gegenwärtigen Krise der EU noch viel zu sagen.
Europa ist heute ein weitgehend einheitlicher Wirtschaftsraum, aber nicht ohne Probleme. Zunehmend sind auseinandertreibende Kräfte zu beobachten: Großbritannien hat seinen Austritt aus der EU beschlossen, östliche Länder werden zu autoritären Staaten und verweigern sich der europäischen Solidarität. Da empfiehlt es sich, wie Lintner und Welzel sagen, sich wieder mit List zu beschäftigen.
Der größere Markt der EU nützt allen: Es wird mehr produziert, durch die größeren Stückzahlen kann billiger produziert werden, und davon haben alle etwas: Branchen, einzelne Unternehmen, die Kapitalgeber, die Beschäftigten und durch den größeren Volkswohlstand selbst die sozial Benachteiligten. List hat das zu seiner Zeit für Deutschland gefordert; der Gedanke ist aber nicht nur typisch List, sondern herrschende Lehre.
Ganz unzweifelhaft hat List jedoch hohe Verdienste um den Ausbau einer Infrastruktur, die die Wirtschaft voranbringt. Das war damals in erster Linie die Eisenbahn, für die er sich gegen viele Widerstände unermüdlich einsetzte. „Der Eisenbahnbau in Deutschland ging wahnsinnig schnell“, sagte Lintner, „da wurde in langen Korridoren gedacht.“Auch heute noch wäre da etwas zu tun: Innerhalb der EU müssen die Vertaktung im Personenverkehr verbessert und das Stromsystem der Bahnlinien vereinheitlicht werden.
Zur Infrastruktur gehören noch viele andere Dinge, insbesondere das Bildungssystem, heute auch ein Leitungsnetz für die Digitalisierung, wie Lintner und Welzel übereinstimmend sagten. Im Bemühen um einen größeren und besser funktionierenden Wirtschaftsraum gebe es allerdings im Zuge des Strukturwandels stets Gewinner und Verlierer. Manche Branchen können die Liberalisierung und Integration der Märkte für einen Aufschwung nutzen, andere werden nicht mithalten. „Aber die Gewinne der Gewinner werden immer größer sein als die Verluste der Verlierer“, betonte Welzel.
Das ist freilich nicht so einfach. Lintner verwies auf die Automobilindustrie. Der Dieselskandal hat deutlich gemacht, dass der Strukturwandel sie erheblich beschädigen könnte. Dabei stehen aber hunderttausende Arbeitsplätze und eine grundlegende Quelle des deutschen Wohlstands auf dem Spiel. Trotzdem bleibe Lists Bemühen um offenere Märkte grundsätzlich richtig: „Sollte es einem abgeschotteten Bulgarien oder Rumänien besser gehen?“, fragte Welzel. „Ich glaube nicht.“