Berliner Lotterleben
„Linie 1“krönt klapps-Festival
Linie 1 – das ist Berlin pur. Seit fast vierzig Jahren rumpelt die U-Bahn im gleichnamigen Musical durch die Problemzonen der Hauptstadt, besetzt mit ziemlich schrägen Typen und begleitet von der ständigen Frage „Haste mal ne Mark?“. Eigentlich auch guter Stoff fürs Figurentheater – aber erst kam die Verfilmung, ehe das Kobalt Theater Lübeck endlich die Puppen tanzen ließ. Im klapps-Festival im Abraxas, das am Sonntag zu Ende ging, gehörte diese Vorstellung zu den Höhepunkten.
Mit 41 Figuren rückten Stephan Schlafke, Silke und Franziska Technau an, um ein lebhaftes Panoptikum typischer Großstadtbewohner darzustellen: Punks, Dealer, Alkis, Spießer, Witwen, Arbeitslose, Teenies, Träumer, Lebensmüde. Mittendrin steht die junge Ausreißerin aus der Provinz, der Frauenheld Johnny das Blaue vom Himmel versprochen hat, um sie zu verführen. Staunend, irritiert und zunehmend sympathisierend lernt sie die Szene im wilden Westberlin zwischen Bahnhof Zoo und Kreuzberg kennen, die harten Gesetze der Straße ebenso wie die warmherzige Solidarität der Außenseiter. po, Witz und sichtlicher Zuneigung zu ihren Puppen, die stets mehr als nur eine Seite zeigen. Selbst die kessen Nazi-Witwen kommen sympathisch rüber.
Einen höheren Abstraktionsgrad mutete die Kompanie Handmaids aus Berlin den Zuschauern zu. Ihre „Salome – frei nach Oscar Wilde“entwickelten die drei Spielerinnen aus einem Haufen Papier. Waghalsig überschritten sie die Grenze von Schauspiel und Figurentheater, kostümierten sich mit Papierbahnen, formten aber auch auf die Schnelle sehr große wie winzig kleine Figuren. Das erzeugt Spannung im Spiel und immer neue Überraschungen.
Welche Rolle spielt Prinzessin Salome am Hof des lüsternen, skrupellosen Herodes? Ist sie nur Marionette der Mutter und Lustobjekt des Königs? Prophet Jochanan, der im schaurig tiefen Verlies schmachtet, geht mit Salome ebenso scharf ins Gericht wie mit den anderen verkommenen Figuren bei Hofe. Einen Kuss kriegt das schwärmerische Mädel von ihm bestimmt nicht.
Unbeschwert auflachen darf man selten bei den Handmaids. Sie hinterfragen das allmächtige Patriarchat und werten das Figurentheater zur gesellschaftskritischen Instanz um.