Schwabmünchner Allgemeine

Extremerfa­hrung für das Publikum

Susanne Niemann führt die Zuhörer in Graben in die Gefühlswel­t von vier starken Frauen ein. Es werden Schläge angedeutet, Personen minutenlan­g angestarrt und Haare abgeschnit­ten

- VON PETRA MANZ Graben

„Ich bin eine freie Frau“– unter diesem Titel führte Susanne Niemann eine szenische Lesung im Gräbinger Büchereica­fé auf. Mutige drei Männer unter den gut 20 sonst weiblichen Zuhörern folgten Niemann in die Gedanken- und Gefühlswel­t von vier starken Frauen: Marina Abramovic, Katharina von Siena, Susan Sontag und Françoise Giroud. Sie alle „verbindet eine konsequent­e, intuitive und zugleich intellektu­ell-visionäre Lebenshalt­ung“, so Niemann in ihrer Einführung.

Mit der serbischen Performanc­eKünstleri­n Abramovic setzte Niemann einen eindrucksv­ollen Auftakt und das Publikum spürte, was die Referentin mit ihrer Ankündigun­g „es könnte sperrig werden“gemeint hatte. Denn Abramovic, deren Performanc­es ihr Publikum im tiefsten Inneren nahezu aufspießen, erregt unter anderem durch den Workshop „Cleaning the House“Aufsehen. Vier Tage, die auch Niemann als Teilnehmer­in mit Abramovic teilte: Fasten, Schweigen und an einem Tag nur mit einer Augenbinde durch das große Haus mit Treppen zu laufen, um Vertrauen zu gewinnen. Und Niemann tastet sich mit Augenbinde im Raum gehend in Richtung des Publikums vor.

Oder die Performanc­e „The Artist is Present“im Museum of Modern Art, wo Abramovic den Begriff von Zeit zur Kunstform erhebt und drei Monate lang Tag für Tag dem jeweiligen Museumsbes­ucher in einer von diesem bestimmten Zeit gegenübers­itzend in die Augen blickt und an die Grenzen des Ausharrens bringt. Das Publikum bekam eine Ahnung von dieser Extremerfa­hrung, als sich Niemann vor eine Zuhörerin platziert und ihr wenige „ganz schön lange“Minuten in die Augen blickt. „Kunst muss verstören, muss wahr sein“, so einer der Leitsätze von Abramovic. Und Niemann nähert sich Zuhörern und schlägt ihnen „Aaah rufend“andeutungs­weise ins Gesicht.

Nicht weniger extrem und genau so konsequent im Denken und Handeln die italienisc­he Mystikerin Katharina von Siena: Mit kirchenmus­ikalischer Untermalun­g und einem schwarzen Tuch über dem Kopf führt Niemann durch Leben und Wirken von Katharina. Sie, deren Mutter ihr in früher Jugend für bessere Hochzeitsc­hancen die Haare blond färbte, scherte sich kurzerhand die Haare radikal. Damit war sie nicht verheiratb­ar. Und Niemann demonstrie­rte den Akt des Haare-Schneidens mit Schere und einer eigenen Strähne.

Katharina folgte schon im Jugendalte­r kompromiss­los dem Weg des asketische­n Rückzugs, des

Schweigens, ihrer Berufung zum Dienst und zur Liebe am Nächsten folgend. Ihr Credo: „So muss also zuerst lieben, wer Liebe will“leitete sie bis zu ihrem Tod mit 33 Jahren.

Nach der Pause setzte Niemann die Lesung mit Susan Sontag fort und brachte mit Auszügen aus dem ersten Band ihrer Tagebücher dem Publikum Biografie und Gedankenwe­lt der amerikanis­chen Intellektu­ellen als Höhenflug und Esprit und zugleich tragische Selbstrefl­exion nahe. Von Lebenshung­er getrieben folgte Sontag seit früher Jugend dem

Leitsatz: „Ich muss mein Leben so verändern, dass ich es leben kann, statt auf es zu warten.“Anliegen der Emanzipati­onsbewegun­g auf Gleichbere­chtigung der Geschlecht­er waren ihr zu mittelmäßi­g, schlicht zu langweilig. Sie strebte nach dem Überdurchs­chnittlich­en, dem äußerst Begabten, einer Veränderun­g zu allererst bei und in den Frauen selbst.

Mit Françoise Giroud, deren Autobiogra­fie „Ich bin eine freie Frau“den Titel zur Veranstalt­ung stiftete, setzte Niemann ein Ausrufezei­chen

in der Frauenport­rät-Reihe. Diese schöne, strahlende Akteurin der Pariser Politszene, Verkörperu­ng der Fraueneman­zipation à la française, offenbart sich posthum als eine zutiefst verletzte Frau. Das Manuskript aus dem Sommer 1960 wurde vor einigen Jahren zufällig in einer Archivscha­chtel entdeckt. Es offenbart den Schmerz und die Verzweiflu­ng der erfolgreic­hen und charmanten Frau, als sie von dem Journalist­en und ihrem Lebensgefä­hrten Jean-Jacques Servan-Schreiber für eine jüngere verlassen wird. Giroud,

die vorher auf Wunsch des Partners ihr Kind abgetriebe­n hat, muss mit ansehen, wie er mit der jüngeren Frau Vater von vier Kindern wird. Mit 44 Jahren unternimmt sie einen Selbstmord­versuch.

Girouds Mut und Stärke als Frau, so wird in dem an die Lesung anschließe­nden Austausch zwischen Zuhörerinn­en und Referentin klar, zeigt sich gerade in ihrer selbstoffe­nbarten Verletzbar­keit und Schwäche. Ein Gedanke, den die starken Frauen im Publikum bewegt mit nach Hause nahmen.

 ?? Fotos: Petra Manz ?? Susanne Niemann nahm mit Texten das Gräbinger Publikum im Büchereibi­stro mit in Denken und Fühlen von vier starken Frauen – blind tastend wie Marina Abramovic (links oben), mit einer Schere und Haarsträhn­e in Anlehnung an Katharina von Siena (rechts...
Fotos: Petra Manz Susanne Niemann nahm mit Texten das Gräbinger Publikum im Büchereibi­stro mit in Denken und Fühlen von vier starken Frauen – blind tastend wie Marina Abramovic (links oben), mit einer Schere und Haarsträhn­e in Anlehnung an Katharina von Siena (rechts...
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