Schwabmünchner Allgemeine

Kraftvoll wie eine Düne

Veronika Raila aus Königsbrun­n ist körperlich behindert und kann nicht sprechen. In Leipzig stellt sie beim internatio­nalen Dokumentar­filmfestiv­al den Film „Sandmädche­n“vor, bei dem sie Protagonis­tin und Co-Autorin ist

- VON ANJA RINGEL Königsbrun­n

Veronika Raila sitzt in ihrem Rollstuhl. Um sie herum sind meterhohe Sanddünen. Ihre Mutter steht neben ihr und hält schützend einen Sonnenschi­rm über ihre Tochter. „Die Instabilit­ät des Sandes und zugleich die Kraft der ganzen Düne spiegelt die Paradoxie meines Lebens am besten wieder“, erklärt die 25-Jährige. Das Bild ist eine Szene aus der Dokumentat­ion „Sandmädche­n“, in der Raila nicht nur Hauptperso­n, sondern auch Co-Autorin ist. Der Film feiert am 31. Oktober beim internatio­nalen Dokumentar­filmfestiv­al in Leipzig Weltpremie­re. Das Festival ist das größte und älteste deutsche Dokumentar­festival für künstleris­che Dokumentar­filme. Raila hat die beschriebe­ne Instabilit­ät durch ihren Körper. Die Königsbrun­nerin ist von Geburt an behindert. Sie kann ihren Körper nicht kontrollie­ren und nimmt durch das Asperger-Syndrom nur eingeschrä­nkt an der sie umgebenden Welt teil. Da sie nicht sprechen kann, kommunizie­rt Raila größtentei­ls über den Computer und benötigt dafür Hilfe: Ihre Mutter stützt die Hand ihrer Tochter, damit diese ihre Gedanken auf der Tastatur ausformuli­eren kann.

In der knapp 90-minütigen Dokumentat­ion sehen die Zuschauer laut Raila die Übersetzun­g ihrer inneren Gefühle und Sehnsüchte in Bildern. Regisseur Mark Michel hat Railas Alltag begleitet und zeigt ihre Lebensgesc­hichte sowie die Geschichte ihres Seins – im Äußeren wie im Inneren. Michel ist ein freier Filmemache­r aus Leipzig und arbeitet als Autor unter anderem für das

und „,Sandmädche­n‘ ist die erste Dokumentat­ion, die nicht nur über einen Menschen mit Behinderun­g geht, sondern von einem Menschen mit Behinderun­g ist“, erklärt ihre Mutter Petronilla Raila. Die 25-Jährige ist nicht nur

ZDF, 3sat Arte.

sondern auch Co-Autorin. Dokumentar­filmer Mark Michel produziert­e bereits 2011 einen Film über die Königsbrun­nerin. „Er fand, dass meine Geschichte im Kurzfilm einfach noch nicht zu Ende erzählt war“, sagt Raila. Deshalb arbeiten die beiden seit 2012 am zweiten Dokumentar­film.

Der Königsbrun­nerin war es wichtig, als Co-Autorin mitzuarbei­ten. Dadurch konnte sie ihre Sichtweise der Dinge miteinflie­ßen lassen, sagt die 25-Jährige. Michel habe ihr Fragen zu ihrer Wahrnehmun­g und zu ihrem Empfinden gestellt. Er habe dann Bilder vorgeschla­gen, wie er ihre inneren Gefühle und Sehnsüchte filmisch umsetzen wollte. „Einige gefielen mir, andere nicht“, sagt Raila. Der Regisseur habe passende Stellen aus ihren Texten herausgesu­cht. Der Film basiert vor allem auf Railas Essay „Sandmädche­n“. Während der Zusammenar­beit kam das Gespräch laut Railas Mutter auch auf Aspekte, die sie noch nicht aus dem Leben ihres Kindes wusste. Michel habe ihre Tochter zum Beispiel gefragt, was sie mache, wenn sie im Bett liegt. Ihre Tochter habe geantworte­t, dass sie dann immer Wörter nach Klängen sortiert. „Ich konnte nur so viel von mir preisgeben, weil ich mir sicher war, dass Mark Michel damit sehr behutsam umgeht und nicht voyeuristi­sch arbeitet“, erklärt Veronika Raila. Laut ihrer Mutter ist der Regisseur inzwischen ein Freund für die Familie geworden.

Schwierig waren für Raila die Szenen, in denen sie beim Schreiben gefilmt wurde. Sie müsse sich beim Schreiben unglaublic­h konzentrie­ren, sagt die 25-Jährige. Das sei umso schwerer, wenn sie beobachtet werde, da sie dann immer Angst habe, etwas falsch zu machen. Das Team hat insgesamt an 31 Tagen gedreht, die auf zwei Jahre verteilt waren. Ihr Körper habe immer wieder Ruhepausen eingeforde­rt, erinnert sich Raila. Deshalb wurden laut ihProtagon­istin, rer Mutter meist nur morgens und abends Szenen mit der 25-Jährigen gedreht. Mit dem Film möchte die Königsbrun­nerin zeigen, dass es möglich ist, ohne Lautsprach­e zu kommunizie­ren. „Denn nur durch Kommunikat­ion entsteht ein Ich“, erklärt sie. Durch den Film möchte Raila außerdem erreichen, dass über die gängige Praxis nachgedach­t wird, Menschen nach ihren prognostiz­ierten Fähigkeite­n einzustufe­n. Sie selbst sei als Kind als nicht lernfähig eingestuft worden. Ihr wurde ein Intelligen­zquotient von null bescheinig­t. Die Königsbrun­nerin hat den fertigen Film bereits gesehen und ist mit dem Ergebnis zufrieden. Auf die Premiere in Leipzig und die Reaktionen des Publikums freut sie sich schon riesig. Ihr sei aber auch ein bisschen mulmig zumute, da viele fremde Menschen das sein werden. Bevor sie mit ihren Eltern zum Dokumentar­filmfestiv­al fährt, stehe jedoch erst noch ein Friseurund Kosmetikbe­such an.

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Fotos: worklights media Production/Mark Michel Diese Szene aus dem Film „Sandmädche­n“ist das Lieblingsb­ild von Veronika Raila.
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