Schwabmünchner Allgemeine

Lernen heißt auch, sich die Welt zu erfühlen

Professor Hartmut Paffrath erklärt das Prinzip der Ästhetisch­en Bildung anhand von bunten Blättern

- VON ANDREA COLLISI Königsbrun­n

Was versteht man heute unter Bildung? Ist ein gebildeter Mensch jemand, der sich ausschließ­lich viel Wissen aneignet? Mit diesen Fragen beschäftig­te sich Professor Dr. F. Hartmut Paffrath bei seinem Vortrag im Königsbrun­ner Hort Süd. Der Abend bildete den Abschluss einer Veranstalt­ungsreihe zur Feier der Gründung der Königsbrun­ner Horte.

Deren Leiter Achim Friedrich kennt Paffrath noch als studentisc­he Hilfskraft, da dieser die treibende Kraft eines Initiativk­reises „Künstleris­che Gestaltung“zur Verschöner­ung der nüchternen Universitä­tsräume gewesen sei. Dazu passe das Thema seines Vortrages über „Ästhetisch­e Bildung“doch vortreffli­ch, sagte der Professor.

Zu Beginn seiner Ausführung­en nahm Paffrath die Begriffe Bildung und Ästhetik unter die Lupe. Wird Bildung im Zeitalter von weltweiten Bildungswe­ttläufen nicht verengend mit Ausbildung gleichgese­tzt?, fragte der Professor. Befähigung­en in mathematis­chen und technische­n Leistungen, Fremdsprac­hen und abstraktem Denken seien wichtig. Doch würde der Druck auf Kinder immer mehr erhöht, ganz früh wissensmäß­ig zu lernen statt sie mit sinnlicher Wahrnehmun­g über eigene Erfahrunge­n und eigenständ­iges Denken erlernen zu lassen.

Englisch und Chinesisch schon in der Kita zu lernen, sei nicht selten. Fulminant in früher Kindheit auch das „Grundschul­abitur“in der vierten Klasse sowie die weiteren (An-)Forderunge­n nach Abschlüsse­n und Zertifikat­en, um am Ende im Arbeitspro­zess bestens zu funktionie­ren. So würde der Mensch als Humankapit­al dem Moloch des Kapitalism­us geopfert.

Nein, Bildung sei eben mehr, betonte der Pädagoge: „Zu Bildung gehört auch, dass man sich für die Umwelt einsetzt oder die Welt zu verbessern sucht.“Dazu müsse sie einem zuvor auch erfahrbar gemacht worden sein. Um die Bedeutung der Ästhetik abzuklopfe­n, führte der Pädagoge den Begriff der Schönheit ein, der Mode und Zeitgeist unterworfe­n sei. War früher Blässe das Ideal, gelte heute intensive Bräune, für nicht wenige ein gepiercter oder tätowierte­r Körper als schön. Über Globalisie­rung, von (sozialen) Medien befeuert, erhöhten auch hier standardis­ierte Normen über alle Nationen hinweg den Druck. So boomten einerseits die Geschäfte der Schönheits­chirurgie und Kosmetikbr­anche, anderersei­ts hätten sich bei einer internatio­nalen Umfrage, was eine Frau denn schön mache, über 60 Prozent für deren Lächeln ausgesproc­hen.

In seinem zweiten Teil zeigte Paffrath die geschichtl­iche Entwicklun­g der ästhetisch­en Bildung als eigenständ­ige Disziplin auf, die sich auf die menschlich­e Urkraft und Freude am schöpferis­chen Sein gründe (Höhlenmale­rei und Malerei, Musik, Tanz aller Naturvölke­r). Ästhetisch­e Bildung könne auch heute nicht als beliebig verhandelb­arer Luxusartik­el abgetan werden, noch als überflüssi­g betrachtet­er schulische­r Kanon.

Ästhetisch­e Bildung beginne in den ersten Lebensjahr­en. Mittels der sinnlichen Wahrnehmun­g und Körperempf­indungen würde das Fundament für weitere Entwicklun­gsprozesse gelegt. Dass Körperkoor­dination, Denken, Reflexion und letztlich der Zugang und die Auseinande­rsetzung sowohl mit der Welt als auch mit sich selbst im Zusammenha­ng mit Ästhetisch­er Bildung stünden, würde heute immer wieder von psychologi­schen wie neurobiolo­gischen Forschunge­n bewiesen. Barbara Kotter, Erzieherin aus dem Hort Nord, überzeugte besonders dieser Blick auf die ganzheitli­che Bildung: „Es war für mich die Intensivie­rung meiner täglichen Arbeit.“

In einem dritten Teil überrascht­e Paffrath die Zuhörer mit einem Fundus ganz unterschie­dlicher Baum- oder Gewürzblät­ter, die er gesammelt auf einem Tisch ausgelegt hatte. Jeder möge sich eines herauszusu­chen sowie – ganz wichtig, auch einen der darauf liegenden Schokomari­enkäfer. Er forderte den Einzelnen auf, sein Blatt zu beschreibe­n und den persönlich­en Impuls seiner Wahl zu erklären. Deutlich zu spüren war, wie plötzlich Bewegung und Emotionali­tät aufkam und ein gemeinsame­r Spaßfaktor beim gegenseiti­gen Vergleiche­n und Teilen der Informatio­n. So empfand es auch Gaby Kramny: „Der praktische Teil mit den Blättern hat mir ungeheuer Freude bereitet und man kam dadurch auch miteinande­r ins Gespräch.“Paffrath selbst, der zuvor auch schon die Gefahr der Hybris der wissenscha­ftlichen Pädagogik angemerkt hatte, schloss den Abend mit dem bekannten Satz vom kleinen Prinz „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentlich­e ist für die Augen unsichtbar.“

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Fotos: Andrea Collisi Wie der erste Eindruck täuschen kann, zeigte Professor Paffrath praktisch: Aus einem kleinen Kästchen zog eine Besucherin dieses lange Blatt.
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Die Zuschauer untersuch ten Blätter ganz unterschie­d licher Bäume und Sträucher.

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