Kein Kredit für Reclam
Die Schrift ist zu klein, das Papier zu dünn, der Inhalt nicht gerade massentauglich. Das ganze Büchlein strahlt in der Hand keine Wertigkeit aus und war zunächst nicht einmal gelb. Nein, wäre ich vor 150 Jahren ein Bankangestellter gewesen, hätte ich Philipp Reclam vermutlich keinen Groschen Kredit geben dürfen. Zum Glück war er darauf nicht angewiesen. Der Vater hatte schon ein Verlagshaus und ein noch größeres Herz für den Sohn. Der war dafür geschäftstüchtiger und technikbegeistert zudem. Lebte er in unserer Zeit, hätte er das erste E-Book herausgegeben, die ersten Lese-Apps verbreitet – und ihm wäre womöglich noch mehr eingefallen, als wir heute an Einsatzmöglichkeiten unserer Smartphones und Tablets kennen. Reclam machte Literatur mobil. Es gab sie aus den ersten Bahnhofsautomaten, im kleinen Taschenformat und als ganze Bibliothek im handlichen Karton. Wie oft wurden Bücher totgesagt? Sie werden überdauern. Die gelbe Reclam-Reihe steckt längst im Universalgedächtnis des Bürgertums aus inzwischen drei Jahrhunderten. Jeder hat dazu eine Erinnerung.
Doch irgendwie geht es den kleinen Heften wie Kugelschreibern. Schnell sind sie nach dem Gebrauch verschwunden. Etwas teurere Bücher werden länger im Regal bewahrt. Deren Verleger haben Reclam mehrfach kopiert. Literatur im Taschenformat, aber mit leichter lesbarer Schrift, auf besserem Papier und einem gut greifbaren Einband hat unsereins schon zur Schulzeit zum Beispiel von Suhrkamp in die Hand bekommen. Und dessen Sammlung füllte das Regal gleich im Spektrum des Regenbogens. Die besten Ideen werden halt oft kopiert und weiter ausgebaut.