„Wir alle sind auf der Flucht“
Der chinesische Künstler Ai Weiwei über sein Berliner Exil, den Kern jeder Kunst und seinen Film über die Flüchtlingsströme unserer Zeit
Herr Ai Weiwei, wann haben Sie damit begonnen, sich künstlerisch für Flüchtlinge zu interessieren?
Zu einer ersten Annäherung an diese Materie kam es bereits in China. Ich stand unter Hausarrest und mein Pass wurde eingezogen. Es war mir nicht gestattet, zu reisen. Natürlich setzte ich mich intensiv mit den Nachrichten über die Krise auseinander, die sich im Nahen Osten ereignete. Viele der Flüchtlinge landeten in irakischen Camps, weil der Isis Völkermord an verschiedenen Minderheiten betrieb. Es entstanden Flüchtlingslager der Uno im Irak. Mich interessierte sehr, wer diese entwurzelten Menschen sind und wie man ihnen eine Stimme geben kann. Ich habe zwei meiner Studioassistenten entsandt, weil ich selbst dem Reiseverbot unterlag. Ich habe meine Leute sehr genau instruiert, mit jedermann Interviews zu führen. Als ich später nach Deutschland kam, genauer gesagt nach Berlin, erfuhr ich, dass einige dieser Menschen bereits den Weg hierher gefunden hatten. Jetzt war es mir endlich möglich, mir persönlich ein Bild zu machen. Ich ging mit meinem Sohn und meiner Freundin nach Lesbos, um weiter zu filmen.
Sie haben in vielen Teilen der Welt gedreht. Was was Ihr roter Faden?
Ai Weiwei: Die globale Flüchtlingssituation ist sehr komplex. Einige Flüchtlinge sind seit mehr als sechs Jahren auf der Flucht, andere erst seit gestern. Man trifft sie in völlig unterschiedlichen geografischen Regionen: Im Mittleren Osten, in Afrika, in Asien, zum Beispiel in Bangladesch, aber auch in Mexiko. Es ist ein großer Mix. Auch in Deutschland, Frankreich, Griechenland und Italien wurde gedreht. Wir hatten ein großes Team, viele Crewmitglieder arbeiteten gleichzeitig an verschiedenen Orten. Dafür war essenziell, dass jeder genau wusste, was er filmen sollte – und was nicht. Wir haben die sogenannten Brennpunkte eingehend studiert, um festzustellen, was dort passiert. Wir bemühten uns um einen möglichst objektiven Standpunkt. Wie gelangen die Menschen über die Grenze? Wie kommen sie an den Strand? Wie viele sind es? Wir haben mehrere hundert Interviews geführt: mit Regierungsbeamten, die für die Flüchtlinge zuständig sind, mit hohen Funktionären der UN, mit freiwilligen Helfern und natürlich mit den Flüchtlingen selbst. Wir haben auch mit Schleppern, einem Priester und mit Totengräbern gesprochen.
Sie wollten aber nicht dieselben Bilder zeigen, die täglich in den Nachrichten auftauchen?
Genau. Die Aufnahmen sollten weder zu schockierend noch zu sentimental sein. Wir wollen der Humanität und Menschenwürde ein Gesicht geben. Gleichzeitig möchten wir die Schwierigkeiten aufzeigen, mit denen sich diese Menschen konfrontiert sehen. Kommen sie tatsächlich an einen Ort, den man als sicher bezeichnen kann? Können sie dort ein eigenes Leben führen? Es sind so viele Probleme, die sich stellen. Es ist fast unmöglich, all das in zwei Stunden Film zu zeigen. Wir sprechen ehrlich und sehr sanft über den allgemeinen Zustand der Menschheit und beobachten aus einer globalen Perspektive. Dazu brauchte es eine filmische Sprache, die diese Perspektive wirklich einfangen kann.
Wann wussten Sie, dass der Film reif für das Kino ist?
Ai Weiwei: Der Film ist beendet, aber er ist weit davon entfernt, fertig zu sein. Er bleibt fragmentarisch. Es wird mir niemals gelingen, einen Film über dieses Thema zu machen, den ich als komplett empfinden würde. Viele der Menschen, die gezeigt werden, sitzen immer noch dort. Und die Bedingungen haben sich verschlechtert, zum Beispiel in Bangladesch oder im Jemen. Der politische Hintergrund hinter diesen Auseinandersetzungen ist so komplex und schwer zu verstehen. Es ist ein Massenmord, der sich vor dem Angesicht der ganzen Welt abspielt. Wir sehen es und lassen es geschehen. Wir müssen unser Menschsein, unsere Demokratie und unsere zivilisierte, machtvolle Gesellschaft hinterfragen. Wollen wir wirklich so weiterleben oder nicht?
Sehen Sie sich selbst als Flüchtling?
Ich glaube, wir alle sind irgendwie auf der Flucht. Ich meine nicht unsere Väter oder vergangene Generationen, sondern uns selbst. Wenn jemand misshandelt oder aus seinem Heim vertrieben wird, wenn jemand keine Chance auf Bildung oder medizinische Versorgung hat,
dann wirft das ein schlechtes Licht auf die Menschheit als solche. Wir stellen uns nicht unserer Verantwortung, anderen Menschen zu helfen. Unser aller moralischer Zustand steht infrage. Was mich selbst betrifft, so nennen wir uns in China nicht Flüchtlinge. Mein Vater (Anm.: der Dichter und Regimekritiker Ai Qing) wurde für zwanzig Jahre in den Nordwesten Chinas verbannt. Ich selbst habe einige Zeit in New York verbracht, ohne die Sprache zu sprechen und ohne ökonomische Unterstützung. Ich kann Menschen gut verstehen, die ihr Heim und ihr Milieu verloren haben und irgendwo als Fremde leben. Nach wie vor bleibt mir der Rückweg nach China verwehrt, für mich besteht dort noch immer Gefahr. Deswegen lebe ich nicht dort. Mir bleibt keine andere Wahl.
Wie definieren Sie Heimat?
Ai Weiwei: Für Worte wie „Heimatland“habe ich keinen Sinn. Ich halte es mit Albert Einstein, der einmal sinngemäß gesagt hat: „An dem Ort, den ich Zuhause nenne, sind die Leute, mit denen ich meine Ideen teilen kann.“Ich denke, das ist die perfekte Antwort. Heute haben wir das Internet. Es ist sehr leicht, von überall aus zu kommunizieren und seine Fühler auszustrecken. Wenn ein Platz für Demokratie und das Recht auf freie Rede steht und wenn er die Menschenwürde beschützt, kann er mein Zuhause sein.
Welchen künstlerischen Stellenwert hat der Film für Sie?
Ai Weiwei: Die Entwicklung jedweder Kunst ist immer an die Entwicklung der Ökonomie und der Wissenschaften gekoppelt. Im Mittelalter finden wir diese großen Gemälde in den Kirchen. Sie sind untrennbar mit den Auffassungen verknüpft, die man zu jener Zeit vertrat. Auch die Architektur der Renaissance ist ein Spiegel ihrer Zeit. Dann kam die industrielle Revolution. Heute leben wir im Zeitalter des Internet und der Globalisierung. Und immer definieren die politischen und sozialen Umstände unsere Sprache. Es ist sehr wichtig, dass sich diese neue Sprache entwickelt. Wir sind einfach anders. Wir zeichnen keine Selbstporträts mehr. Rembrandt oder Van Gogh haben ein paar Dutzend Selbstporträts geschaffen. Heute mache ich ein Selfie. Oder gleich ein paar Dutzend. Und es kann genauso gut sein wie jedes andere Porträt. Es ist die Sprache unserer Zeit. Was sich nie geändert hat, ist der Grundgedanke hinter alldem. Wir benutzen die Kunst dazu, unsere Innenwelt zu reflektieren. Dazu gehört auch, wie wir auf Andere schauen oder auf die Welt als Ganzes. Das ist der Kern, der grundlegende Kampf hinter jeder Form von Kunst.