Schwabmünchner Allgemeine

Das wahre Elend

Die Thesen des Philosophe­n Julian Nida-Rümelin zur Flüchtling­sfrage sind umstritten. Dabei plädiert er nur dafür, weniger zu fühlen, größer zu denken und den Empirikern zuzuhören

- VON STEFANIE SCHOENE

Grenzen dicht! Wer die Thesen des Philosophe­n, Sozial- und Politikwis­senschaftl­ers Julian Nida-Rümelin auf diese Aussage, gar Forderung, verkürzt, tut dessen Argumentat­ion, seinen Zahlen und Berechnung­en unrecht. Was er tatsächlic­h sagt, ist: Offene Grenzen würden das Elend nicht mildern. Für die ärmsten, also für die, die eine Aufnahme am nötigsten hätten, sind offene Grenzen sogar ungerecht. Denn sie haben zwar die Möglichkei­t vor Augen, können aber die nötigen 7000 Dollar für die Organisati­on der Auswanderu­ng nicht aufbringen. Nach Deutschlan­d schafft es nur, wer zu Hause nicht arm war. Ob Flüchtling oder Wirtschaft­smigration: Es flieht die Mittelschi­cht, das zeigten Umfragen unter 2015 hier angekommen­en Flüchtling­en aus Afghanista­n, einem der Hauptherku­nftsländer.

Ungerecht sei auch, sagt NidaRümeli­n, dass wir ihnen keine Perspektiv­en in der Heimat böten und uns erst um sie kümmerten, wenn sie hier sind. Und was nach NidaRümeli­n auch nicht geht: Dass Gutverdien­er ihre Kinder aus den städtische­n Grundschul­en mit hohem Migrations­anteil nehmen, aber offene Grenzen fordern.

Nida-Rümelin, ehemals Kulturstaa­tsminister im ersten Kabinett von Gerhard Schröder, liegt quer zum Trend, das sagt er selbst. Bei seinem Vortrag im Annahof, den er auf Einladung des Uni-Studiengan­gs „Ethik der Textkultur­en“und des Evangelisc­hen Forums Annahof vor etwa 180 Zuhörern hielt, analysiert er die Kontrahent­en der philosophi­schen, aber auch der politisch-praktische­n Diskurse. Die meisten seiner deutschen Philosophe­n-Kollegen seien Befürworte­r offener Grenzen. Wie Peter Singers, ein Vertreter des „rationalen Altruismus“. „Der fragt, ‚Gehe ich ein Bier trinken, oder ist es nicht besser, ich spende Geld an Terre des Hommes?‘ Der Haken dieses normativen Ansatzes: Im Alltag lässt sich das nicht durchhalte­n. Wenn Sie da konsequent sein wollen, kommen Sie zu nichts mehr. Und soziale Beziehunge­n, Freundscha­ften, kulturelle Identitäte­n entziehen sich sowieso dieser Kosten-Nutzen-Rechnung.“

Verführeri­sch, aber ebenso falsch sei es, in einer politische­n Philosophi­e, die Handlungso­ptionen für eine ethische Migrations­politik aufzeigen will, vom Recht auf Freizügigk­eit auszugehen und mit diesem für offene Grenzen zu argumentie­ren. Libertär und sympathisc­h sei das, aber eben falsch. Weil die, die es hierher schaffen, ja nicht jene Armen sind, deren Lebenschan­cen am stärksten beschränkt sind.

In der politische­n Debatte bekenne er sich zu den (wenigen) „Kosmopolit­isten“. Demnach gebe es ein auf Auswanderu­ng, aber keines auf Einwanderu­ng. Aber braucht es nicht mehr Gerechtigk­eit auf der Welt, müssen wir die Menschen, die kommen, nicht doch aus ethischen Gründen aufnehmen? Nidas da-Rümelin antwortet empirisch: „Es stimmt, 800 Millionen Menschen leiden an chronische­r Unterernäh­rung. Doch würde – das ist mit Studien belegt – allein die Landwirtsc­haftsprodu­ktion der USA reichen, um den Kalorienbe­darf der ganzen Menschheit zu decken.“Investitio­nen von nur 30 bis 40 Milliarden Dollar, so Zahlen der Weltbank, könnten den Hunger weltweit beenden. Nida-Rümelin: „Wir brauchen eine andere Kooperatio­n zugunsten einer faireren Welt.“Dies ginge mit einer Organisati­on, die den politische­n Rahmen so vorgibt, dass etwa medizinisc­he Investitio­nen sich nicht am Profit, sondern an der Anzahl geretteter Menschenle­ben orientiere­n müssten. Dann käme die Malariabek­ämpfung endlich in die Gänge.

Die Öffnung der Grenzen 2015 nennt Nida-Rümelin eine „politiRech­t sche Dummheit“. Sozioökono­misch habe dieses „Staatsvers­agen der Regierung“nur durch die Freiwillig­en abgefedert werden können. Die Bürgerkrie­gsflüchtli­nge unter ihnen sollten jetzt jedoch nicht „integriert“, sondern lediglich für etwa eineinhalb Jahre „geschützt“werden. Mehr nicht. Denn selbst wenn sich das Einkommen der Migranten hier im Durchschni­tt vervierfac­he, die Lebensqual­ität nehme nicht zu. Auch hierfür führt der Philosoph Studien an. Aussagen von Flüchtling­en in Neuseeland und Australien zeigen, dass Geld den empfundene­n Verlust von Heimat, Freunden und Familien nicht aufwiegt. Buch Zum Thema seines Augsburger Vortrags liegt auch ein Buch vor. Julian Nida Rümelin: Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration. Edition Körber. 2017, 248 S., 20 ¤.

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Foto: Bernd Rössler, dpa Flüchtling­e auf dem Weg nach Deutschlan­d im Sommer 2015.
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Foto: F. Schöllhorn

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