Schwabmünchner Allgemeine

Steigt einer auf, muss ein anderer runter

Die neue Klassenges­ellschaft funktionie­rt nach dem Paternoste­r-Prinzip. Dass das politisch eher nach rechts führt, zeigt sich bereits daran, dass die Sozialdemo­kratie internatio­nal im Sinkflug ist und Nationalis­ten Auftrieb haben

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Es war der Versuch eines Eklats: Da war mit dem Präsidente­n Emmanuel Macron vermeintli­ch der neue Heilsbring­er Frankreich­s und der EU zur Eröffnung der Buchmesse nach Frankfurt gekommen – und der neue französisc­he Star-Analyst der westlichen Gesellscha­ft meldete wütend seinen Boykott. Um später doch zu erscheinen und zu wettern, dass Macrons Wirtschaft­sagenda die Gesellscha­ft immer weiter in die politisch prekäre Spaltung treiben werde. Nein, mit Didier Eribon sprach da kein antikapita­listischer Ideologe. Und er sprach auch nicht nur über Frankreich. In seinem Buch „Rückkehr nach Reims“hatte der Soziologe schlicht dokumentie­rt, wie in seiner alten Heimat ein Wir-Gefühl der Menschen zerfallen sei und gerade dadurch ein neuer Nationalis­mus aufgelebt habe.

Frankreich, Deutschlan­d, Österreich, zuletzt auch Tschechien: Die Sozialdemo­kratie ist internatio­nal im freien Fall; gleichzeit­ig erlebt die Rechte überall Auftrieb. Zu lesen ist das in Eribons nun erschienen­em Folgebuch „Gesellscha­ft als Urteil“, aber vor allem im Werk „Die Gesellscha­ft der Singularit­äten“seines deutschen Kollegen Andreas Reckwitz. Es zeichnet sich darin die Entstehung einer neuen Klassenges­ellschaft ab, mit einem neuen Prinzip. Reckwitz: „Im Fahrstuhl der Industrieg­esellschaf­t fuhren alle Schichten nach oben, wurden wohlhabend­er und konnten sich als Teil des Fortschrit­ts empfinden. Im Paternoste­r der postindust­riellen Gesellscha­ft hingegen fährt gleichzeit­ig eine Kabine nach oben, die andere nach unten.“

Es ist das große einordnend­e Bild zu dem, was Didier Eribon im Konkreten schildert. Seine Eltern waren einst mit aufgestieg­en, als Arbeiter in die Mittelschi­cht und damit auch im positiven Gefühl einer Klassenzug­ehörigkeit, also klassische Links-Wähler, in Deutschlan­d die Klientel der Sozialdemo­kraten. Doch als der Aufstieg stockte, der Stillstand sich allmählich wie ein Absinken anzufühlen begann und sich im wirtschaft­lichen Wandel auch die einheimisc­he Schicht der Arbeiter immer mehr zersetzte, vollzogen diese Wähler allmählich einen Schwenk nach rechts. Mit zwei ausschlagg­ebenden Motiven, Eribon: 1. Eine irgendwie noch linke Klassensol­idarität hätte sie nun mit den Fremden vereinen müssen, gegen die sie sich früher gerade in ihrem Schichtbew­usstsein auch abgegrenzt haben. 2. Sie waren links, weil ihnen der Aufstieg in der Schicht ihr Häuschen verschafft hatte – und sie wurden rechts, weil sie ihr Häuschen gegen all die drohende Konkurrenz nun auch behalten wollten. Und die, die sich einst als oberste Klassenkäm­pfer und Anführer der Arbeiter geriert hatten, waren dadurch längst zu „Klassenflü­chtigen“geworden und weiter nach oben marschiert. Treue war denen jedenfalls nicht geschuldet.

Andreas Reckwitz systematis­iert kristallkl­ar jene Beobachtun­gen, die Eribon in auch theoretisc­h weitschwei­figen Auseinande­rsetzungen gewinnt. Der Kultursozi­ologe aus Frankfurt/Oder spricht vom Entstehen einer neuen Mittelschi­cht an der Spitze einer „konfliktha­ften DreiDritte­l-Gesellscha­ft“, in die die vorige „nivelliert­e Mittelstan­dsgesellsc­haft“(Helmut Schelsky) inzwischen gespalten ist. Ausschlagg­ebend: 1. der technologi­sch-wirtschaft­liche Wandel von der indusso triellen zur postindust­riellen Gesellscha­ft, die immer weniger den Typus Arbeiter kennt; 2. die Bildungsex­pansion, die zu einem immer höheren Anteil an Studierend­en führte; 3. der kulturelle Wertewande­l „von den Pflicht- und Akzeptanzw­erten zu den Selbstverw­irklichung­swerten nach 1968“.

Die neue Mittelschi­cht ist nach Reckwitz das Gewinner-Drittel. Meist urban lebend, akademisch gebildet, liberal und samt Meditation und Sport ein gutes, gesundes und genussreic­hes Leben führend. Auch der Beruf soll erfüllend sein. Es gilt hier die Individual­ität, bloß nicht „Durchschni­tt Mittelmaß“sein.

Die anderen Drittel bilden die neue Unter- und die alte Mittelschi­cht. Und beide tendieren angesichts dieser Entwicklun­gen zu „riskanten politische­n Einstellun­gen“. Unten die Niedriggeb­ildeten, die sich durchwurst­eln in unattrakti­ven Berufen. Man fühlt sich sozial abgehängt, übervortei­lt, die Wohnvierte­l sind unsicher, Zukunftspe­rspektive keine – ein Blick, der sich dadurch leicht auf die Kinder überträgt. Hier wählen Wut und Verdruss.

In der alten Mitte, vor allem im Ländlicher­en, haben sich nach Rechwitz die Strukturen eigentlich erhalten: mittlere Abschlüsse, solide Jobs, eher klassische Werte – im Vergleich zur neuen Mitte wirkt vieles davon aber abgewertet und angesichts der rasant sich verändernd­en Wertewelt zudem bedroht. Hier wählen also Angst und Sicherheit­sbedürfnis. Und im Gegensatz zur früheren Mittelstan­dsgesellsc­haft leben die Angehörige­n dieses Drittels heute eher streng voneinande­r getrennt. In der neuen Mitte geht es nach oben, darunter eher nach unten, sozial und kulturell. Reckwitz: „Hier findet eine Entwertung von Lebensstil­en, Werten und Qualifikat­ionen“statt. Und: „Angesichts der Dynamik des Paternoste­rs sind politische Konflikte nicht verwunderl­ich.“

Didier Eribon würde wohl an Emmanuel Macrons Ausspruch von einem „Zug in die Zukunft“denken, in den jeder eingeladen sei einzusteig­en, es dann aber auch tun müsse. Als könnten da alle mit! Und was ist mit denen, die – warum auch immer – auf dem Bahnsteig bleiben? Andreas Reckwitz sieht dasselbe auch in Deutschlan­d und in den USA …

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Foto: Roland Weihrauch, dpa Es gilt nicht mehr das Prinzip Fahrstuhl, in dem es für alle nach oben geht, es gilt der Paternoste­r.
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