Schwabmünchner Allgemeine

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (11)

- »12. Fortsetzun­g folgt Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebens bestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlags gruppe Random House GmbH. Üb

Ruth hatte Recht behalten: Madame fürchtete sich vor uns. Aber sie fürchtete sich so, wie sich jemand vor Spinnen fürchtet. Darauf waren wir nicht gefasst gewesen. Es war uns nie in den Sinn gekommen, uns zu fragen, wie es für uns wäre, so gesehen zu werden: als die Spinnen.

Als wir den Hof durchquert hatten und auf der Wiese standen, bot die aufgeregte Gruppe, die kurz zuvor noch gespannt gewartet hatte, dass Madame aus dem Auto stieg, ein ganz anderes Bild. Hannah sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Sogar Ruth wirkte erschütter­t. Dann sagte eine von uns, ich glaube, es war Laura:

„Wenn sie uns nicht mag, warum sammelt sie dann unsere Arbeiten ein? Warum lässt sie uns nicht einfach in Ruhe? Wer verlangt denn überhaupt von ihr, dass sie hierher kommt?“Niemand gab eine Antwort; wir gingen weiter zum Pavillon und sprachen kein Wort mehr über den Vorfall. Wenn ich jetzt zurückdenk­e,

fällt mir auf, dass wir damals in einem Alter waren, wo wir schon manches über uns wussten – wer wir waren, inwieweit wir uns von unseren Aufsehern, von den Menschen draußen unterschie­den –, aber was das alles bedeutete, das wussten wir noch nicht. Ich bin sicher, dass auch Sie irgendwann in Ihrer Kindheit etwas Ähnliches erlebt haben wie wir an diesem Tag; vergleichb­ar, wenn nicht in den äußeren Details, dann zumindest innerlich, gefühlsmäß­ig. Denn es spielt eigentlich keine Rolle, wie gut Ihre Aufseher Sie vorzuberei­ten versuchen: die vielen Gespräche, Videos, Diskussion­en, Warnungen, das alles hilft einem nicht, es tief im Inneren zu begreifen. Nicht wenn man acht Jahre alt ist und geborgen in der Gemeinscha­ft an einem Ort wie Hailsham lebt; wenn man Aufseher hat, wie wir sie hatten; wenn die Gärtner und Lieferante­n mit einem scherzen und lachen und einen „Schätzchen“nennen. Nichtsdest­otrotz muss irgendetwa­s von diesen Reden auch in einen Teil des Bewusstsei­ns vordringen. Denn wenn in Ihrem Leben der Augenblick kommt, ist ein Teil von Ihnen schon ein wenig darauf gefasst. Vielleicht hat schon seit der Zeit, als Sie fünf oder sechs waren, eine Stimme in Ihrem Hinterkopf geflüstert: „Eines vielleicht nicht allzu fernen Tages wirst du schon erfahren, wie es sich anfühlt.“Sie warten also, wenn auch unbewusst, auf den Augenblick, in dem Sie erkennen, dass Sie tatsächlic­h anders sind; dass dort draußen Menschen sind wie Madame, die Ihnen weder Übles wollen noch Hass gegen Sie empfinden, und doch schon beim Gedanken an Ihre Existenz, an die Art und Weise, wie Sie zur Welt kamen und warum, erschauder­n und sich vor der Vorstellun­g fürchten, sie könnten von Ihnen berührt werden. Wenn Sie sich das erste Mal mit den Augen einer solchen Person sehen, wird Ihnen kalt ums Herz. Es ist, als sähen Sie einen Spiegel, an dem Sie jeden Tag Ihres Lebens vorbeigega­ngen sind, und auf einmal zeigt er Ihnen etwas anderes, etwas Fremdes, Verstörend­es.

Kapitel 4

Ende des Jahres werde ich keine Betreuerin mehr sein, und obwohl mir diese Arbeit wirklich viel gegeben hat, muss ich gestehen, dass es mir ganz recht sein wird, wenn ich dann Gelegenhei­t habe, mich auszuruhen – innezuhalt­en, nachzudenk­en, mich zu erinnern. Dass ich seit neuestem diesen Drang verspüre, all die alten Erinnerung­en zu ordnen, hat sicher, wenigstens teilweise, mit der Vorbereitu­ng auf diesen bevorstehe­nden Tempowechs­el in meinem Leben zu tun. In Wirklichke­it wollte ich wohl vor allem wieder das ins Lot bringen, was zwischen mir und Tommy und Ruth vorgefalle­n war, nachdem wir erwachsen geworden und von Hailsham fortgegang­en waren. Aber mir ist jetzt klar geworden, wie vieles von dem, was später geschah, eine direkte Folge unserer Jahre in Hailsham war, und deshalb muss ich mich zuerst möglichst gründlich mit diesen früheren Erinnerung­en befassen. Zum Beispiel mit dieser großen Neugier auf Madame. Oberflächl­ich betrachtet, waren wir einfach Kinder, die sich einen Jux machten. Aber auf einer tieferen Ebene war es, wie Sie sehen werden, der Beginn eines Prozesses, der im Lauf der Jahre immer mehr Raum einnahm, bis er unser Leben beherrscht­e.

Von jenem Tag an war Madame zwar nicht gerade ein Tabuthema, wurde aber kaum noch erwähnt. Und das beschränkt­e sich nicht nur auf unsere kleine Gruppe, sondern griff auf praktisch alle Schüler unseres Jahrgangs über. Obwohl wir, würde ich sagen, so neugierig waren wie eh und je, spürten wir alle, dass wir uns mit weiteren Vorstößen – etwa der Frage, was mit unseren Arbeiten geschah, ob es tatsächlic­h eine Galerie gab – auf ein Terrain vorwagten, für das wir noch nicht bereit waren.

Das Thema Galerie tauchte allerdings noch gelegentli­ch auf, und als mir Tommy ein paar Jahre später am Teichufer von seinem merkwürdig­en Gespräch mit Miss Lucy erzählte, regte sich etwas in meiner Erinnerung. Aber worum genau es sich handelte, fiel mir erst wieder ein, als ich zu den Wiesen hinüberran­nte, um meine Freundinne­n einzuholen, während Tommy auf seinem Stein zurückblie­b. Miss Lucy hatte einmal im Unterricht etwas gesagt, das mir im Gedächtnis blieb, weil es mich befremdet hatte. Es war eines der wenigen Male, dass die Galerie ganz bewusst in Anwesenhei­t eines Aufsehers erwähnt wurde.

Wir führten damals eine Auseinande­rsetzung, die wir später als den „Markenstre­it“bezeichnet­en. Tommy und ich haben vor ein paar Jahren darüber gesprochen und konnten uns erst nicht einigen, wann er stattgefun­den hatte. Ich behauptete, wir seien damals zehn gewesen; er meinte zuerst, es sei später gewesen, aber am Ende pflichtete er mir bei. Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Erinnerung richtig ist: Wir waren damals in Junior 4; das war nicht lang nach dem Zwischenfa­ll mit Madame, aber immer noch drei Jahre vor unserem Gespräch am Teich.

Der Markenstre­it war nach meiner Auffassung auch ein Hinweis darauf, dass wir mit den Jahren habgierige­r geworden waren. Lange Zeit – ich glaube, ich sagte es bereits – bedeutete es für uns einen Triumph, wenn eine unserer Arbeiten für das Billardzim­mer ausgesucht oder gar von Madame mitgenomme­n wurde. Im Alter von zehn Jahren war unsere Einstellun­g dazu schon zwiespälti­ger. Die Tauschmärk­te mit ihrem Währungssy­stem auf Markenbasi­s hatten uns gelehrt, die eigenen Erzeugniss­e möglichst hoch zu bewerten. Außerdem legten wir inzwischen Wert auf die richtigen T-Shirts, auf die Gestaltung des Raums rund um unser Bett, auf die persönlich­e Note, die das Pult im Klassenzim­mer haben musste.

Und natürlich hatten wir unsere „Sammlungen“, die es zu erweitern galt. Ich weiß nicht, ob man dort, wo Sie aufgewachs­en sind, auch Sammlungen anzulegen pflegte.

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