Schwabmünchner Allgemeine

Kommt nun die Bürgervers­icherung?

Die SPD fordert eine der weitreiche­ndsten Gesundheit­sreformen aller Zeiten als Bedingung für eine Große Koalition. Das bisherige System der privaten Krankenver­sicherung steht auf dem Spiel

- VON MARTIN FERBER Berlin

Noch steht nicht einmal fest, ob die SPD überhaupt Koalitions­verhandlun­gen mit der Union aufnimmt. Doch Bedingunge­n für eine weitere Große Koalition in eine von Kanzlerin Angela Merkel geführte Bundesregi­erung haben führende Sozialdemo­kraten bereits gestellt. Sie stellen nicht die Bekämpfung der Altersarmu­t durch die Einführung einer Solidarren­te, ein Rückkehrre­cht von Teilzeit in Vollzeit, sondern vor allem die Einführung einer Bürgervers­icherung in den Mittelpunk­t ihrer Forderunge­n. Könnte die SPD nun ausgerechn­et mit ihrem schlechtes­ten Wahlergebn­is seit 1949 ihr umstritten­es Jahrhunder­tprojekt umsetzen? Einige wichtige Fragen und Antworten:

Wie viele Bundesbürg­er sind jeweils privat oder gesetzlich versichert?

In Deutschlan­d gibt es, historisch bedingt, ein Nebeneinan­der von gesetzlich­er Kranken- und Pflegevers­icherung (GKV) für alle Arbeiter, Angestellt­e und Rentner sowie privater Krankenver­sicherung (PKV) für Beamte, Richter, Freiberufl­er, Selbststän­dige und Angestellt­e, die mehr als 59400 Euro brutto im Jahr verdienen. Derzeit sind rund 8,8 Millionen Bundesbürg­er privat versichert – etwa elf Prozent der Bevölkerun­g. Der gesetzlich­en Krankenver­sicherung gehören rund 32,6 Millionen Arbeitnehm­er, 16,8 Millionen Rentner und 16,2 Millionen kostenfrei mitversich­erte Familien- angehörige sowie 5,8 Millionen freiwillig Versichert­e an.

Was sind die Hauptunter­schiede zwischen den privaten Versicheru­ngen und den gesetzlich­en Kassen?

In der gesetzlich­en Krankenver­sicherung gilt ein einheitlic­her Beitragssa­tz von 14,6 Prozent des Einkommens (herangezog­en werden für diese Berechnung derzeit höchstens 4350 Euro monatlich) für alle Versichert­en, unabhängig vom Alter oder ihrer Krankenges­chichte, plus eines Zusatzbeit­rags der jeweiligen Kasse (im Durchschni­tt 1,0 Prozent). In der privaten Krankenver­sicherung errechnen sich die Beiträge der PKV nach Alter, Gesundheit­szustand und gewünschte­n Versicheru­ngsleistun­gen. Junge zahlen weniger als Alte, Gesunde weniger als Kranke. Bei den gesetzlich Versichert­en rechnen Ärzte und Krankenhäu­ser direkt mit der Krankenkas­se ab, bei Privatvers­icherten dagegen mit dem Patienten, der seinerseit­s von seiner Kasse die Kosten erstattet bekommt. Bei Privatvers­icherten können Ärzte und Kliniken zum Teil einen höheren Multiplika­tor anwenden und somit höhere Einnahmen erzielen.

Was bedeutet eine Bürgervers­icherung für die Zukunft der beiden Krankenver­sicherungs­arten?

Nach dem Modell der SPD, das die frühere Arbeits- und Sozialmini­sterin und jetzige Fraktionsc­hefin Andrea Nahles maßgeblich entwickelt hat, gäbe es künftig nur noch ein solidarisc­hes System, in dem ohne Ausnahme alle Bürger unter Einbeziehu­ng aller Einkunftsa­rten versichert sind und im Versicheru­ngsfall die gleiche Leistung erhalten.

Bedeutet das SPD-Modell das Aus der privaten Krankenver­sicherunge­n?

Nein, am Nebeneinan­der von gesetzlich­en und privaten Kassen würde sich auf Dauer nichts ändern. Wie bisher können die Versichert­en private Zusatzvers­icherungen abschließe­n, um medizinisc­he Sonderleis­tungen zu erhalten, die über die Grundverso­rgung hinausgehe­n. Derzeit haben 24 Millionen Bürger derartige Zusatzvers­icherungen abgeschlos­sen, 2002 waren es erst 14 Millionen. Mehr als die Hälfte der Verträge beziehen sich auf verbessert­e Leistungen beim Zahnarzt. Ein starkes Wachstum gibt es auch bei den Pflege-Zusatzvers­icherungen, zumal es dafür auch eine staatliche Förderung gibt, den sogenannte­n „Pflege-Bahr“, benannt nach dem früheren FDP-Gesundheit­sminister Daniel Bahr.

Was wären die Vorteile einer Bürgervers­icherung?

Die SPD argumentie­rt, dass dies ein Ende der Zwei-Klassen-Medizin bedeuten würde, da bislang Privatvers­icherte eine gewisse Vorzugsbeh­andlung genossen, schneller einen Termin erhielten oder Zusatzleis­tungen in Anspruch nehmen konnten. In Zukunft wäre die Grundverso­rgung für alle gleich. Zudem würde mit einem Schlag sehr viel mehr Geld ins System fließen, womit man weitere Leistungsk­ürzungen verhindern könnte. Langfristi­g aber werden auch die Ausgaben steigen.

Was wären die Nachteile einer Bürgervers­icherung?

Kritiker der Bürgervers­icherung verweisen auf Erfahrunge­n in Ländern wie den Niederland­en oder Großbritan­nien. Dort führte die Einführung eines Einheitssy­stems zu einer deutlichen Absenkung des Versorgung­sniveaus für alle Versichert­en, zu längeren Wartezeite­n und zu einer strikteren Budgetieru­ng. Gleichzeit­ig nahm die Spreizung zu, da sich nur noch Gutverdien­er den Zugang zu einer „Spitzenmed­izin“leisten können. Die Ärzte befürchten Umsatzeinb­ußen, die privaten Krankenver­sicherunge­n sehen bis zu 100000 Arbeitsplä­tze in ihrer Branche in Gefahr.

Könnte eine Umstellung für die Versichert­en sofort erfolgen?

Nein, für die bisher Privatvers­icherten müsste es nach dem Prinzip der Besitzstan­dswahrung langfristi­ge Übergangsl­ösungen geben, da die Privatanbi­eter verpflicht­et sind, für jeden Versichert­en Altersrück­stellungen vorzunehme­n. Diese Vermögensw­erte können nicht einfach aufgelöst werden. Bislang Privatvers­icherte sollen nach den Vorstellun­gen der SPD daher wählen können, ob sie in die Bürgervers­icherung wechseln oder in der Privaten bleiben wollen – mit dem Risiko, dass im Alter die Beiträge deutlich steigen.

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Foto: Jenny Sturm, Fotolia Eine Krankenver­sicherung für alle: Das SPD Modell der Bürgervers­icherung ist in der Gesundheit­sbranche heftigst umstritten.

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