Ein Andenken aus menschlichem Haar
Mit filigranen Kunstwerken erinnerte man früher an besondere Ereignisse. Im Schwäbischen Volkskundemuseum Oberschönenfeld ist ein solches Werk aus der Kaiserzeit zu sehen
Wer sich heutzutage an besondere Ereignisse erinnern will, der klickt und wischt sich durch die digitale Bildersammlung auf Computer und Smartphone. Oder er nimmt – ganz altmodisch – ein Fotoalbum zur Hand. Doch wie war das eigentlich früher, als die Fotografie noch in den Kinderschuhen steckte, als sie noch aufwendig und teuer war?
Mit dieser Thematik beschäftigt sich derzeit das Objekt des Monats im Schwäbischen Volkskundemuseum Oberschönenfeld: das Haarbild. Diese Kunstwerke, die aus menschlichen Haaren hergestellt werden, waren im 19. Jahrhundert ein beliebter Wandschmuck. Auf diese Weise wurden die Haare von Nahestehenden als Andenken an besondere Ereignisse wie Taufe, Hochzeit oder Tod aufbewahrt – als Symbol der Verbundenheit.
So auch das Kastenbild, das derzeit in Oberschönenfeld ausgestellt ist. Es stammt aus der Zeit um 1900 und erinnert an ein unbekanntes Ehepaar. Detailreiche Blumen und Blätter, verziert mit eingesetzten Glasstei- schlingen sich um zwei Fotos der Verstorbenen. Erst bei genauerem Hinschauen wird klar: Die filigranen Ranken, die Blütenblätter und unzählige kleine Spiralen sind aus Haaren gemacht.
Die Fotos des Paares werden von Goldlitzen umrahmt. Kunsthistorikerin Gertrud Roth-Bojadzhiev erklärt, dass es sich bei diesem Exponat um ein „glückliches Zusammentreffen zweier Techniken“handelt: die damals noch neue Technik der Fotografie sowie die alte Technik der Haarbildherstellung. Denn in den meisten Fällen enthält ein Haarbild keine Fotografie. Ob es sich bei den verwendeten Haaren wirklich um die Haare der Verstorbenen handelt, ist unklar. Roth-Bojadzhiev merkt an, dass für die Gedenkbilder teilweise auch gewerblich verkauftes Haar genutzt wurde: „Im 19. Jahrhundert hatten ja alle Frauen lange Haare, da herrschte kein Mangel an Haaren.“
Die ersten Haarbilder wurden zu Beginn des 17. Jahrhunderts angefertigt. Ihre Hochzeit erreichten sie jedoch erst rund 200 Jahre später in der Biedermeier-Zeit. Vor allem bei der gutbürgerlichen Schicht im ländlich geprägten Raum, vornehmlich in Süddeutschland, waren die Gedenkbilder sehr beliebt.
Damals waren es viele Perückenmacher, die die filigranen Kunstwerke mit speziellen Flecht-, Knüpfund Klöppeltechniken herstellten. „Perücken waren aus der Mode gekommen, weswegen die Perückenmacher keinen Verdienst mehr hatten“, erklärt Roth-Bojadzhiev. Aber auch Friseure fertigten die Bilder an, oder Frauen in Heimarbeit.
Der Vorteil von Haaren: Sie sind relativ stabil und halten sehr lange. „Sie verwesen nicht so schnell wie der Rest des Körpers“, erklärt Gertrud Roth-Bojadzhiev. So wurden die Bilder auch als Freundschaftssymbole angefertigt oder zu feierlichen Anlässen wie einer Primiz oder einem Klostereintritt.
Erloschen ist die Tradition erst nach dem Ersten Weltkrieg. „Schwer zu sagen, warum Bräuche verschwinden“, sagt Roth-Bojadzhiev. Sie vermutet ein Zusammenspiel mehrerer Gründe: So war die Herstellung der Haarbilder „irrsinnig diffizil“und sehr zeitaufwendig. Und auch die Weiterentwicklung der Fonen, tografie mag ihren Teil zum Aussterben der Tradition beigetragen haben. Ob es heute überhaupt noch Menschen gibt, die die filigranen Techniken beherrschen, ist unklar. „Soweit uns bekannt ist, kann das niemand mehr“, bedauert Roth-Bojadzhiev.
Heutzutage mögen solche Bilder aus Haaren ein gewisses Unbehagen auslösen: „Für viele sind Haare heute etwas Gruseliges“, sagt die Kunsthistorikerin. Zwar wolle jeder schöne Haare haben, „aber im Bad in der Bürste mag sie niemand. Und auch Körperhaare wie unter den Achseln werden abrasiert.“
Zu sehen ist das Kastenbild noch bis Ende des Monats im Rahmen der renovierungsbedingten Sonderausstellung „Vorsicht Baustelle! Was tut sich im Museum?“. Passend zum Totensonntag entschied sich das Museum in diesem Monat für das Haarbild als besondere Form des Totengedenkens. Im Dezember steht eine Prozessionsmadonna im Mittelpunkt. Derzeit wird das größte der Museumsgebäude des Schwäbischen Volkskundemuseums, der ehemalige Ochsen- und Pferdestall, für rund 2,4 Millionen Euro erneuert.