Schwabmünchner Allgemeine

Aus Blicken werden Worte

Mithilfe modernster Technik lernen Menschen mit Behinderun­g zu sprechen. Am Fritz-Felsenstei­n-Haus in Königsbrun­n suchen Experten nach neuen Hilfsmitte­ln. Doch bis zu einer Unterhaltu­ng ist es oft ein weiter Weg

- VON ADRIAN BAUER Königsbrun­n

Die großen Geschenke im Leben bringt nicht immer das Christkind. Manche Menschen können aufgrund von Behinderun­gen nicht sprechen, sich nicht äußern, ihre Gefühle nicht ausdrücken. Für sie kann manchmal die moderne Technik eine große Hilfe sein. Im Fritz-Felsenstei­n-Haus in Königsbrun­n sucht ein Team von Experten nach solchen Lösungen und arbeitet mit den Schülern und jungen Erwachsene­n daran, dass aus dem Hilfsmitte­l ein echter Helfer im Alltag wird. Für die jungen Menschen ist das ein großes Geschenk, für die Mitarbeite­r sind es die glückliche­n Gesichter ihrer Klienten, die sich oft vorher nicht verständli­ch machen konnten.

Denn Kommunikat­ion ist ein Grundbedür­fnis des Menschen, sagt Karin Haag, Studienrät­in an der Felsenstei­n-Schule und Mitglied des Teams „ELEktronis­che Hilfen und COmputer für Körperbehi­nderte (ELECOK)“. Etwa ein Viertel der Schüler am Felsenstei­n-Haus braucht Hilfsmitte­l, um sich ausdrücken zu können. Oft entwickeln Eltern und ihre behinderte­n Kinder ein System, wie man sich trotz aller Einschränk­ungen verständig­en kann. Doch außerhalb des engsten Familienkr­eises wird es oft schwer – und genau dabei kommen die elektronis­chen Hilfsmitte­l ins Spiel. Sie geben den behinderte­n Menschen eine Stimme, die jeder versteht. Und die ihnen hilft, ihren Alltag außerhalb der Familie und der Einrichtun­g selbststän­dig zu gestalten: beim Bäcker Brötchen zu bestellen oder Freunden zu erzählen, was sie am Tag erlebt haben. Karin Haag und ihre Kollegen stehen dazu in mit Reha-Firmen weltweit, die immer neue Geräte und Programme entwickeln, die behinderte­n Menschen weiterhelf­en können. Im Felsenstei­n-Haus beraten die Experten dann, ob ein neues Gerät zu einem Klienten passt. Erweist sich das System nach einer Erprobungs­phase tatsächlic­h als hilfreich, wird ein Antrag an die Krankenkas­se gestellt, die die Kosten übernehmen soll.

Erstmals wurden in den 80erJahren Computer als Sprechhelf­er für Behinderte eingesetzt, vor etwa 20 Jahren hat eine sprunghaft­e Entwicklun­g eingesetzt: „Die früheren Alpha- und Delta-Talker waren komplizier­t zu steuern und die Computerst­imme klang ziemlich eintönig. Aber es gab einfach nicht viel. Mittlerwei­le hat man die Qual der Wahl“, sagt Haag. Durch immer kompaktere Computer und iPads stehen den Pädagogen völlig neue Möglichkei­ten offen. Denn die Hilfsmitte­l können immer besser auf die Bedürfniss­e jedes einzelnen Klienten zugeschnit­ten werden, sagt Therapiele­iterin Dagmar Simnacher. Im Felsenstei­n-Haus arbeiten Pädagogen und Therapeute­n an der Umsetzung, ihre Erfahrunge­n geben sie wiederum an die Firmen weiter, die mit dem Expertenwi­ssen ihre Produkte verfeinern können.

Zugute kommt das dann Menschen wie Raphael Rhawi. Der junge Mann sitzt im Rollstuhl und kann nur einfache Laute von sich geben: Ja, nein und Ähnliches sind verständli­ch, darüber hinaus wird es schwierig. Er probiert derzeit ein System aus, bei dem er auf einem Bildschirm vor ihm aus einzelnen Buchstaben Worte bildet. Ein Rechtschre­ibprogramm, wie man es von Handys kennt, macht Vorschläge für vollständi­ge Worte. Eine angenehme Männerstim­me verkündet das Ergebnis. Das Besondere: Rhawi steuert das Gerät über eine Kamera nur mit den Augen. „Vorher hat er das über den Steuerhebe­l seines Rollstuhls gemacht. Doch aufgrund einer spastische­n Lähmung ist das nicht nur schwierig, sondern auch sehr anstrengen­d für ihn“, sagt Physiother­apeutin Christine Brenner. Daher lernt er sich nun in die neue Technik ein. Die Umstellung ist gar nicht so einfach: Ein paar Zentimeter zu weit links geguckt und schon beantworte­t er die Frage nach seinem Lieblingsf­ußballvere­in mit „Bayern Mülheim“.

Dieses Problem kennen die Felsenstei­ner so gut, dass in ihrem Büro auch ein Zettel mit einem Sinnspruch hängt: „Nur weil Du ein Klavier kaufst, bist Du noch lange kein Pianist.“Denn zu lernen, wie man das Hilfsmitte­l benutzt, bedeutet für die Klienten, eine neue SpraKontak­t che zu lernen, sagt Logopädin Bettina Fischer: „Das ist oft ein langwierig­er Prozess und oft auch für die Eltern frustriere­nd. Viele setzen große Hoffnungen in das Gerät, denken: Jetzt wird alles einfacher.“Doch in der Realität ist es der Beginn eines langen Prozesses.

Die Logopäden bringen den jungen Nutzern Schritt für Schritt bei, mit ihrem technische­n Helfer zu arbeiten. Das ist keine kleine Herausford­erung. Nicht behinderte Kinder plappern nach, was sie von ihren Eltern hören. Behinderte­n sind hier oft physische Grenzen gesetzt. Hinzu kommt, dass Eltern von behinderte­n Kindern weniger mit ihnen sprechen als mit nicht behinderte­n Kindern. „Viele werden unsicher, weil von den Kindern weniger Reaktion zurückkomm­t, als die Eltern erwarten“, sagt Bettina Fischer.

Für die Arbeit mit dem Talker müssen die Kinder erst lernen, Zeichen zu lesen und daraus dann Wörter zu bilden. Wie dieser Prozess abläuft, hängt vom Grad der Einschränk­ung ab. Raphael Rhawi hat ganz normale Buchstaben auf seinem Display und kann daraus Wörter bilden. Damit gehört er schon zu den Experten. Andere Kinder haben neben den Buchstaben Bilder auf der Tastatur – neben dem A ist beispielsw­eise ein Affe zu sehen. So lernen sie Buchstabe für Buchstabe und Wort für Wort kennen. Wieder andere müssen erst lernen, dass sie mit bestimmten Handlungen eine Reaktion auslösen – beispielsw­eise mit Spielzeugh­unden, die bellen, wenn man einen Knopf drückt. Spiel und Spaß sind eine wichtige Komponente beim Erwerb der Sprache, sagt Bettina Fischer: „Wichtig ist, dass die Kinder Freude daran haben. Mit einem Mädchen habe ich zum Beispiel Quatschanr­ufe bei uns im Haus gemacht, mit Nachrichte­n, die sie am Talker vorbereite­t hatte. Das fand sie sehr lustig.“Und positive Erlebnisse motivieren auch, sich beim nächsten Mal wieder mit dem Talker zu beschäftig­en. Je früher man solche Therapien anfangen könne, desto besser.

Der Wunsch der Pädagogen ist, dass dieser Lernprozes­s nach der Schule nicht aufhört. Deshalb gibt es für die Bewohner der Förderstät­te Angebote, um sich im Gebrauch der Maschinen zu üben. Pädagoge Jan Kauth hat zum Beispiel eine Teestube ins Leben gerufen, bei der die Teilnehmer selbst bestellen dürfen, was sie haben möchten. „Man muss sich selbst bewusst machen, dass nicht jeder Schüler am Ende ein Highend-Nutzer sein kann“, sagt Kauth. Spontane Unterhaltu­ngen können geistig und körperlich sehr anstrengen­d sein. Außerdem kann es lange dauern, bis eine Antwort auf dem Gerät fertiggest­ellt ist. Viele behelfen sich damit, vor festen Terminen die Sätze vorzuberei­ten, die sie später sagen wollen. Doch die Kinder sollen lernen, dass Kommunikat­ion Spaß macht. Und sie sollen in die Lage versetzt werden, nach der Schule nicht nur im stillen Kämmerchen zu sitzen, sondern sich der Welt mitteilen zu können, allen zu sagen, wie es ihnen geht. Auch wenn auf dem Weg dorthin ein paar Mal „Bayern Mülheim“herauskomm­t.

„Viele setzen große Hoffnungen in das Gerät, denken: Jetzt wird alles einfacher.“Logopädin Bettina Fischer

„Man muss sich selbst bewusst machen, dass nicht jeder Schüler am Ende ein Highend Nutzer sein kann.“Pädagoge Jan Kauth

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Fotos: Adrian Bauer Raphael Rhawi testet ein neues System: Er steuert mit den Augen die Buchstaben auf dem Bildschirm an und bildet so Worte.
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Wortkärtch­en oder Tablet? Karin Haag, Jan Kauth und Bettina Fischer (von links) suchen nach den passenden Hilfsmitte­ln für ihre Klienten.
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A wie Affe, N wie Nase – als Hilfestell­ung bekommen Nutzer Bilder zu den Buch staben auf dem Bildschirm angezeigt.

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