Aus Blicken werden Worte
Mithilfe modernster Technik lernen Menschen mit Behinderung zu sprechen. Am Fritz-Felsenstein-Haus in Königsbrunn suchen Experten nach neuen Hilfsmitteln. Doch bis zu einer Unterhaltung ist es oft ein weiter Weg
Die großen Geschenke im Leben bringt nicht immer das Christkind. Manche Menschen können aufgrund von Behinderungen nicht sprechen, sich nicht äußern, ihre Gefühle nicht ausdrücken. Für sie kann manchmal die moderne Technik eine große Hilfe sein. Im Fritz-Felsenstein-Haus in Königsbrunn sucht ein Team von Experten nach solchen Lösungen und arbeitet mit den Schülern und jungen Erwachsenen daran, dass aus dem Hilfsmittel ein echter Helfer im Alltag wird. Für die jungen Menschen ist das ein großes Geschenk, für die Mitarbeiter sind es die glücklichen Gesichter ihrer Klienten, die sich oft vorher nicht verständlich machen konnten.
Denn Kommunikation ist ein Grundbedürfnis des Menschen, sagt Karin Haag, Studienrätin an der Felsenstein-Schule und Mitglied des Teams „ELEktronische Hilfen und COmputer für Körperbehinderte (ELECOK)“. Etwa ein Viertel der Schüler am Felsenstein-Haus braucht Hilfsmittel, um sich ausdrücken zu können. Oft entwickeln Eltern und ihre behinderten Kinder ein System, wie man sich trotz aller Einschränkungen verständigen kann. Doch außerhalb des engsten Familienkreises wird es oft schwer – und genau dabei kommen die elektronischen Hilfsmittel ins Spiel. Sie geben den behinderten Menschen eine Stimme, die jeder versteht. Und die ihnen hilft, ihren Alltag außerhalb der Familie und der Einrichtung selbstständig zu gestalten: beim Bäcker Brötchen zu bestellen oder Freunden zu erzählen, was sie am Tag erlebt haben. Karin Haag und ihre Kollegen stehen dazu in mit Reha-Firmen weltweit, die immer neue Geräte und Programme entwickeln, die behinderten Menschen weiterhelfen können. Im Felsenstein-Haus beraten die Experten dann, ob ein neues Gerät zu einem Klienten passt. Erweist sich das System nach einer Erprobungsphase tatsächlich als hilfreich, wird ein Antrag an die Krankenkasse gestellt, die die Kosten übernehmen soll.
Erstmals wurden in den 80erJahren Computer als Sprechhelfer für Behinderte eingesetzt, vor etwa 20 Jahren hat eine sprunghafte Entwicklung eingesetzt: „Die früheren Alpha- und Delta-Talker waren kompliziert zu steuern und die Computerstimme klang ziemlich eintönig. Aber es gab einfach nicht viel. Mittlerweile hat man die Qual der Wahl“, sagt Haag. Durch immer kompaktere Computer und iPads stehen den Pädagogen völlig neue Möglichkeiten offen. Denn die Hilfsmittel können immer besser auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Klienten zugeschnitten werden, sagt Therapieleiterin Dagmar Simnacher. Im Felsenstein-Haus arbeiten Pädagogen und Therapeuten an der Umsetzung, ihre Erfahrungen geben sie wiederum an die Firmen weiter, die mit dem Expertenwissen ihre Produkte verfeinern können.
Zugute kommt das dann Menschen wie Raphael Rhawi. Der junge Mann sitzt im Rollstuhl und kann nur einfache Laute von sich geben: Ja, nein und Ähnliches sind verständlich, darüber hinaus wird es schwierig. Er probiert derzeit ein System aus, bei dem er auf einem Bildschirm vor ihm aus einzelnen Buchstaben Worte bildet. Ein Rechtschreibprogramm, wie man es von Handys kennt, macht Vorschläge für vollständige Worte. Eine angenehme Männerstimme verkündet das Ergebnis. Das Besondere: Rhawi steuert das Gerät über eine Kamera nur mit den Augen. „Vorher hat er das über den Steuerhebel seines Rollstuhls gemacht. Doch aufgrund einer spastischen Lähmung ist das nicht nur schwierig, sondern auch sehr anstrengend für ihn“, sagt Physiotherapeutin Christine Brenner. Daher lernt er sich nun in die neue Technik ein. Die Umstellung ist gar nicht so einfach: Ein paar Zentimeter zu weit links geguckt und schon beantwortet er die Frage nach seinem Lieblingsfußballverein mit „Bayern Mülheim“.
Dieses Problem kennen die Felsensteiner so gut, dass in ihrem Büro auch ein Zettel mit einem Sinnspruch hängt: „Nur weil Du ein Klavier kaufst, bist Du noch lange kein Pianist.“Denn zu lernen, wie man das Hilfsmittel benutzt, bedeutet für die Klienten, eine neue SpraKontakt che zu lernen, sagt Logopädin Bettina Fischer: „Das ist oft ein langwieriger Prozess und oft auch für die Eltern frustrierend. Viele setzen große Hoffnungen in das Gerät, denken: Jetzt wird alles einfacher.“Doch in der Realität ist es der Beginn eines langen Prozesses.
Die Logopäden bringen den jungen Nutzern Schritt für Schritt bei, mit ihrem technischen Helfer zu arbeiten. Das ist keine kleine Herausforderung. Nicht behinderte Kinder plappern nach, was sie von ihren Eltern hören. Behinderten sind hier oft physische Grenzen gesetzt. Hinzu kommt, dass Eltern von behinderten Kindern weniger mit ihnen sprechen als mit nicht behinderten Kindern. „Viele werden unsicher, weil von den Kindern weniger Reaktion zurückkommt, als die Eltern erwarten“, sagt Bettina Fischer.
Für die Arbeit mit dem Talker müssen die Kinder erst lernen, Zeichen zu lesen und daraus dann Wörter zu bilden. Wie dieser Prozess abläuft, hängt vom Grad der Einschränkung ab. Raphael Rhawi hat ganz normale Buchstaben auf seinem Display und kann daraus Wörter bilden. Damit gehört er schon zu den Experten. Andere Kinder haben neben den Buchstaben Bilder auf der Tastatur – neben dem A ist beispielsweise ein Affe zu sehen. So lernen sie Buchstabe für Buchstabe und Wort für Wort kennen. Wieder andere müssen erst lernen, dass sie mit bestimmten Handlungen eine Reaktion auslösen – beispielsweise mit Spielzeughunden, die bellen, wenn man einen Knopf drückt. Spiel und Spaß sind eine wichtige Komponente beim Erwerb der Sprache, sagt Bettina Fischer: „Wichtig ist, dass die Kinder Freude daran haben. Mit einem Mädchen habe ich zum Beispiel Quatschanrufe bei uns im Haus gemacht, mit Nachrichten, die sie am Talker vorbereitet hatte. Das fand sie sehr lustig.“Und positive Erlebnisse motivieren auch, sich beim nächsten Mal wieder mit dem Talker zu beschäftigen. Je früher man solche Therapien anfangen könne, desto besser.
Der Wunsch der Pädagogen ist, dass dieser Lernprozess nach der Schule nicht aufhört. Deshalb gibt es für die Bewohner der Förderstätte Angebote, um sich im Gebrauch der Maschinen zu üben. Pädagoge Jan Kauth hat zum Beispiel eine Teestube ins Leben gerufen, bei der die Teilnehmer selbst bestellen dürfen, was sie haben möchten. „Man muss sich selbst bewusst machen, dass nicht jeder Schüler am Ende ein Highend-Nutzer sein kann“, sagt Kauth. Spontane Unterhaltungen können geistig und körperlich sehr anstrengend sein. Außerdem kann es lange dauern, bis eine Antwort auf dem Gerät fertiggestellt ist. Viele behelfen sich damit, vor festen Terminen die Sätze vorzubereiten, die sie später sagen wollen. Doch die Kinder sollen lernen, dass Kommunikation Spaß macht. Und sie sollen in die Lage versetzt werden, nach der Schule nicht nur im stillen Kämmerchen zu sitzen, sondern sich der Welt mitteilen zu können, allen zu sagen, wie es ihnen geht. Auch wenn auf dem Weg dorthin ein paar Mal „Bayern Mülheim“herauskommt.
„Viele setzen große Hoffnungen in das Gerät, denken: Jetzt wird alles einfacher.“Logopädin Bettina Fischer
„Man muss sich selbst bewusst machen, dass nicht jeder Schüler am Ende ein Highend Nutzer sein kann.“Pädagoge Jan Kauth