Schwabmünchner Allgemeine

Die Nachbarsch­aftshilfe bringt auch das Gemüse

Die Mitglieder der Zeitbörse Königsbrun­n können sich flexibel einbringen und ihren Mitbürgern helfen. Dafür bekommen sie auch Gegenleist­ungen. Wie das System das Leben in einer alternden Gesellscha­ft erleichter­n kann

- VON ADRIAN BAUER Königsbrun­n

Wie das System der Zeitbörse Königsbrun­n auch das Leben in einer alternden Gesellscha­ft erleichter­n kann.

Regine Gerstmayer bekommt einen großen Karton voll Essen an die Haustür geliefert: Eier, Gemüse, Äpfel – alles frisch von regionalen Bauern. Das Besondere dabei: Sie bezahlt zwar das Gemüse, die Lieferung ist aber kostenlos. Die erledigt Jürgen Müller, der Vorsitzend­e der Königsbrun­ner Zeitbörse für sie. Das Ganze ist Teil eines Systems, bei dem sich Menschen unterstütz­en, ohne dafür sofort eine Gegenleist­ung zu erwarten. Und das ist in Königsbrun­n ein echter Renner.

Vereine für Nachbarsch­aftshilfe gibt es einige: Jemand mäht dem anderen den Rasen, dafür bekommt er einen Kuchen gebacken. Die Königsbrun­ner hören da aber nicht auf. Immer mehr neue Projekte und Ideen werden entwickelt, die Mitglieder­zahl steigt stetig.

Grundsätzl­ich läuft das System bei der Zeitbörse so: Für jede Unterstütz­ung für ein anderes Mitglied bekommt der Helfer Talente auf seinem Vereinskon­to gutgeschri­eben. Mit diesen kann er wiederum andere Mitglieder entlohnen, die ihm helfen. Aus einem kleinen Grüppchen, das sich im Hinterzimm­er der Therme traf, ist ein Verein mit 270 Mitglieder­n geworden, der mittlerwei­le zahlreiche Nebenproje­kte am Laufen hält. Es gibt den Verein Autoteiler, der neben normalem Carsharing noch Fahrdienst­e für Mitglieder, aber auch Senioren und Behinderte außerhalb des Vereins organisier­t. Auch „Radeln für jedes Alter“, bei dem Menschen aus Seniorenhe­imen mit einer speziellen Rikscha durch die Stadt gefahren werden, ist ein Kind der Zeitbörse. Das Team der Königsbrun­ner Permakultu­rgärten rekrutiert sich ebenfalls zu großen Teilen aus Zeitbörsia­nern.

Gemeinsam sind allen Initiative­n die Ziele: Sie sollen Menschen in der Stadt näher zusammenbr­ingen, aber auch einen Beitrag zu nachhaltig­em Wirtschaft­en und zum Umweltschu­tz leisten. Bei der alljährlic­hen Großverans­taltung des Vereins, dem Warentausc­htag, geht es zum Beispiel um das Thema Müllvermei­dung, sagt Jürgen Müller: „Was andere Leute wegschmeiß­en würden, können andere vielleicht noch brauchen.“Was abgegeben wird, dürfen andere kostenlos mitnehmen. Der Erfolg des ersten Tages 2009 hat auch die Skeptiker im Verein überzeugt: Man stellte zehn Biertische auf für die Waren, die bei Weitem nicht reichten: „Wir wurden förmlich überrollt“, sagt Müller. Im folgenden Jahr stellte man schon 90 Tische auf.

Diese Vielseitig­keit mit Großverans­taltung und laufenden Projekten sieht Müller als große Stärke des Ge- Und, dass die Menschen sich nicht dauerhaft binden müssen: „Jeder kann sich eine Tätigkeit aussuchen, die ihm liegt. Und man kann sich einbringen, wenn gerade Zeit ist.“Hinzu kommt, dass die Zeitbörse auch eine Kontaktbör­se ist. 80 Menschen kommen zum monatliche­n Stammtisch, dazu organisier­t der Verein mittlerwei­le Ausflugsfa­hrten zu Weihnachts­märkten oder zum Chiemsee.

Ziel des Ganzen ist, eine Kultur des Miteinande­rs in die Stadt zu bringen, wie es sie auf Dörfern noch gibt. „Wir sind alle ein bisschen zu Ich-lingen geworden. Ich möchte die Menschen überzeugen, ihren Nachbarn wieder mehr zu sehen“, sagt Müller. Die Talente wurden als Währung geschaffen, um die Balance zu halten zwischen Geben und Nehmen. Und das funktionie­re sehr gut, sagt Müller: „Wir sehen, dass Menschen, die früher anderen geholfen haben, jetzt ihre gesammelte­n Talente einsetzen – beispielsw­eise für Fahrdienst­e.“Der Idealfall für Müller wäre, dass das System ganz ohne Talente funktionie­rt. Bei kleinen Gruppen im Verein ist es bereits so, dass sie in der Zeitbörse Freunde werden und sich helfen, ohne Talente dafür aufzuschre­iben.

Die Nachbarsch­aftshilfe könnte Teil der Antwort auf den demograsam­tkonzepts. fischen Wandel sein, sagt Müller. In anderen Orten gibt es Seniorenge­nossenscha­ften. Dabei können Kinder Talente erarbeiten, die sie an ihre Eltern weitergebe­n können, die Hilfe brauchen. Allerdings zieht sich das Modell über die ganzen Gemeinden. Und das erfordert mehr Verwaltung­saufwand und -fachwissen, als es die Zeitbörsia­ner aufbringen können, macht sich Müller keine Illusionen: „Für solch ein Projekt müsste die Stadt mit einem Büro ins Boot.“Die Zusammenar­beit funktionie­re schon jetzt in Königsbrun­n sehr gut.

Der Verein konzentrie­rt sich darauf, neue Projekte auszuarbei­ten, die die Mitglieder und die Stadt weiterbrin­gen. Neu ist der Lieferserv­ice für regionale Lebensmitt­el, bei dem ein Fahrer Bestellung­en bei der Marktschwä­rmerei in Augsburg abholt. „Das Essen kommt von Bauern aus der Region und es fährt nur einer nach Augsburg. Das passt bestens ins Konzept“, sagt Müller. Im Lauf des Jahres sollen die Königsbrun­ner Lastenfahr­räder mit Elektromot­or ausleihen können, um damit ihre Einkäufe klimafreun­dlich erledigen zu können. Die Mitglieder werden mithelfen, die Stadt mit weiteren Permakultu­rgärten zu begrünen. Und Jürgen Müller und seine Kollegen suchen nach neuen Projekten, die die Königsbrun­ner weiter zusammenbr­ingen können – auch ganz ohne Geld.

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Foto: Adrian Bauer Jürgen Müller holt die Lebensmitt­el von der Marktschwä­rmerei und bringt sie Mitglieder­n wie Regine Gerstmayer nach Hause.

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