Die Nachbarschaftshilfe bringt auch das Gemüse
Die Mitglieder der Zeitbörse Königsbrunn können sich flexibel einbringen und ihren Mitbürgern helfen. Dafür bekommen sie auch Gegenleistungen. Wie das System das Leben in einer alternden Gesellschaft erleichtern kann
Wie das System der Zeitbörse Königsbrunn auch das Leben in einer alternden Gesellschaft erleichtern kann.
Regine Gerstmayer bekommt einen großen Karton voll Essen an die Haustür geliefert: Eier, Gemüse, Äpfel – alles frisch von regionalen Bauern. Das Besondere dabei: Sie bezahlt zwar das Gemüse, die Lieferung ist aber kostenlos. Die erledigt Jürgen Müller, der Vorsitzende der Königsbrunner Zeitbörse für sie. Das Ganze ist Teil eines Systems, bei dem sich Menschen unterstützen, ohne dafür sofort eine Gegenleistung zu erwarten. Und das ist in Königsbrunn ein echter Renner.
Vereine für Nachbarschaftshilfe gibt es einige: Jemand mäht dem anderen den Rasen, dafür bekommt er einen Kuchen gebacken. Die Königsbrunner hören da aber nicht auf. Immer mehr neue Projekte und Ideen werden entwickelt, die Mitgliederzahl steigt stetig.
Grundsätzlich läuft das System bei der Zeitbörse so: Für jede Unterstützung für ein anderes Mitglied bekommt der Helfer Talente auf seinem Vereinskonto gutgeschrieben. Mit diesen kann er wiederum andere Mitglieder entlohnen, die ihm helfen. Aus einem kleinen Grüppchen, das sich im Hinterzimmer der Therme traf, ist ein Verein mit 270 Mitgliedern geworden, der mittlerweile zahlreiche Nebenprojekte am Laufen hält. Es gibt den Verein Autoteiler, der neben normalem Carsharing noch Fahrdienste für Mitglieder, aber auch Senioren und Behinderte außerhalb des Vereins organisiert. Auch „Radeln für jedes Alter“, bei dem Menschen aus Seniorenheimen mit einer speziellen Rikscha durch die Stadt gefahren werden, ist ein Kind der Zeitbörse. Das Team der Königsbrunner Permakulturgärten rekrutiert sich ebenfalls zu großen Teilen aus Zeitbörsianern.
Gemeinsam sind allen Initiativen die Ziele: Sie sollen Menschen in der Stadt näher zusammenbringen, aber auch einen Beitrag zu nachhaltigem Wirtschaften und zum Umweltschutz leisten. Bei der alljährlichen Großveranstaltung des Vereins, dem Warentauschtag, geht es zum Beispiel um das Thema Müllvermeidung, sagt Jürgen Müller: „Was andere Leute wegschmeißen würden, können andere vielleicht noch brauchen.“Was abgegeben wird, dürfen andere kostenlos mitnehmen. Der Erfolg des ersten Tages 2009 hat auch die Skeptiker im Verein überzeugt: Man stellte zehn Biertische auf für die Waren, die bei Weitem nicht reichten: „Wir wurden förmlich überrollt“, sagt Müller. Im folgenden Jahr stellte man schon 90 Tische auf.
Diese Vielseitigkeit mit Großveranstaltung und laufenden Projekten sieht Müller als große Stärke des Ge- Und, dass die Menschen sich nicht dauerhaft binden müssen: „Jeder kann sich eine Tätigkeit aussuchen, die ihm liegt. Und man kann sich einbringen, wenn gerade Zeit ist.“Hinzu kommt, dass die Zeitbörse auch eine Kontaktbörse ist. 80 Menschen kommen zum monatlichen Stammtisch, dazu organisiert der Verein mittlerweile Ausflugsfahrten zu Weihnachtsmärkten oder zum Chiemsee.
Ziel des Ganzen ist, eine Kultur des Miteinanders in die Stadt zu bringen, wie es sie auf Dörfern noch gibt. „Wir sind alle ein bisschen zu Ich-lingen geworden. Ich möchte die Menschen überzeugen, ihren Nachbarn wieder mehr zu sehen“, sagt Müller. Die Talente wurden als Währung geschaffen, um die Balance zu halten zwischen Geben und Nehmen. Und das funktioniere sehr gut, sagt Müller: „Wir sehen, dass Menschen, die früher anderen geholfen haben, jetzt ihre gesammelten Talente einsetzen – beispielsweise für Fahrdienste.“Der Idealfall für Müller wäre, dass das System ganz ohne Talente funktioniert. Bei kleinen Gruppen im Verein ist es bereits so, dass sie in der Zeitbörse Freunde werden und sich helfen, ohne Talente dafür aufzuschreiben.
Die Nachbarschaftshilfe könnte Teil der Antwort auf den demograsamtkonzepts. fischen Wandel sein, sagt Müller. In anderen Orten gibt es Seniorengenossenschaften. Dabei können Kinder Talente erarbeiten, die sie an ihre Eltern weitergeben können, die Hilfe brauchen. Allerdings zieht sich das Modell über die ganzen Gemeinden. Und das erfordert mehr Verwaltungsaufwand und -fachwissen, als es die Zeitbörsianer aufbringen können, macht sich Müller keine Illusionen: „Für solch ein Projekt müsste die Stadt mit einem Büro ins Boot.“Die Zusammenarbeit funktioniere schon jetzt in Königsbrunn sehr gut.
Der Verein konzentriert sich darauf, neue Projekte auszuarbeiten, die die Mitglieder und die Stadt weiterbringen. Neu ist der Lieferservice für regionale Lebensmittel, bei dem ein Fahrer Bestellungen bei der Marktschwärmerei in Augsburg abholt. „Das Essen kommt von Bauern aus der Region und es fährt nur einer nach Augsburg. Das passt bestens ins Konzept“, sagt Müller. Im Lauf des Jahres sollen die Königsbrunner Lastenfahrräder mit Elektromotor ausleihen können, um damit ihre Einkäufe klimafreundlich erledigen zu können. Die Mitglieder werden mithelfen, die Stadt mit weiteren Permakulturgärten zu begrünen. Und Jürgen Müller und seine Kollegen suchen nach neuen Projekten, die die Königsbrunner weiter zusammenbringen können – auch ganz ohne Geld.