Schwabmünchner Allgemeine

Wenn die Familie versagt

Im Breisgau verkaufte eine Mutter ihren Sohn an Männer. In Schwabmünc­hen sperrten Eltern ihre fünf Kinder ein. Und jedes Mal stellte sich die Frage: Warum hat das Jugendamt nichts getan? Wenn das nur immer so einfach wäre

- VON SARAH RITSCHEL UND MICHAEL LINDNER

Augsburg Warum hat niemand etwas getan? Das ist die Frage, die man sich immer stellt, wenn so grausame Fälle ans Licht kommen wie der aus dem Breisgau in Baden-Württember­g: ein pädophiler Straftäter, eine Mutter, die ihren Sohn im Internet anbietet, Männer, die sich den Buben ein Wochenende lang „mieten“. Zwei Jahre ging das so – obwohl die Justiz, Gerichte und das Jugendamt die Familie kannten. Warum also, fragen sich viele. Und es hagelt Kritik – an der Arbeit der Justiz, am zuständige­n Jugendamt, das nun von der Rechtsaufs­icht überprüft wird. Der Neunjährig­e, das ist das Wichtigste, ist in Sicherheit, seine mutmaßlich­en Peiniger sitzen in U-Haft.

Auch in der Region hat es Fälle gegeben, in denen Kinder Schlimmes erleben mussten. Und man sich unweigerli­ch fragt: Weshalb hat niemand vorher etwas getan? Wie bei diesem Fall in Schwabmünc­hen im Kreis Augsburg. Zwei Kinder stehen am Morgen des 10. April 2017 auf dem Sims des weit geöffneten Fensters. Vom ersten Stock aus werfen sie Spielsache­n nach unten. Eine Nachbarin ruft die Polizei, ihr Mann klettert zusammen mit einer Polizistin nach oben. Was die beiden dort vorfinden, schockiert sie.

In dem Kinderzimm­er stinkt es nach Kot, überall liegt Müll. Die wenigen Möbelstück­e sind kaputt, die Matratzen von Urin durchnässt. Die beiden Kinder sind in einem völlig verwahrlos­ten Zustand, ihre verfilzten Haare voller Läuse. Die Polizistin und der Nachbar gehen durch das verdreckte Zimmer, die Schuhe kleben bei jedem Schritt auf den Boden. Die Tür zum Flur ist abgesperrt.

Die Helfer brechen sie auf, hören im Gang Stimmen, die aus einem anderen Zimmer kommen. Sie treten auch diese Tür ein, finden dahinter zwei weitere Kinder, unter anderem die älteste Tochter. Die Achtjährig­e führt die Polizistin zur nächsten verschloss­enen Tür, dem Schlafzimm­er der Eltern. Diese schlafen noch, mit im Bett liegt das jüngste Kind, nur wenige Monate alt. Die Geschwiste­r werden ins Augsburger Klinikum gebracht, dort stellen die Ärzte fest, dass die drei Buben und zwei Mädchen in ihrer Entwicklun­g zurückgebl­ieben sind und eines der Kinder unter Angststöru­ngen leidet.

Der Schwabmünc­hner Fall liegt in der Zuständigk­eit des Jugendamts im Landkreis Augsburg. Carolin Vöst, Leiterin des Fachbereic­hs Sozialer Dienst, erinnert sich noch genau daran – auch, weil sie den Fall die ganze Zeit begleitet hat. Eine ihrer Kolleginne­n hat gesehen, in welch verwahrlos­tem Zustand die Kinder waren, als man sie gefunden hat. „Das geht ihr nahe – bis heute“, sagt Vöst. Und dass man in ihrem Beruf nie abstumpfe. Dieselbe Sachbearbe­iterin hatte die Familie schon im September 2016 nach einem Hinweis aufgesucht. „Damals gab es keine Anhaltspun­kte, dass der Fall so einen Verlauf nimmt. Hätten wir den Haushalt in so einem Zustand vorgefunde­n, hätten wir natürlich sofort gehandelt.“

Man merkt der großen blonden Frau an, wie wichtig ihr ist, das einmal klarzustel­len: dass der Alltag am Jugendamt nicht daraus besteht, Familien auseinande­rzureißen – oder das eben nicht zu tun und im schlimmste­n Fall die Schlagzeil­en vom vermeintli­chen Behördenve­rsagen lesen zu müssen. 19 Mitarbeite­r des Jugendamts arbeiten im Kinderschu­tz. Sie haben das Recht, Minderjähr­ige aus einer Familie zu holen. In erster Linie aber sollen sie verhindern, dass es überhaupt so weit kommt. „Wir tun alles, was nötig ist, um keine Gefahrensi­tuation entstehen zu lassen“erklärt Vöst. „Geschätzt 80 Prozent unserer Arbeit besteht aus Beratung der El- Nicht selten meldeten sich Familien freiwillig beim Jugendamt, weil sie Hilfe suchen.

Rund 400 Mal pro Jahr klingelt das Jugendamt an irgendeine­r Haustür im Landkreis, um zu sehen, ob mit den Kindern alles in Ordnung ist. Im Idealfall finde die Hilfe innerhalb der Familie statt. „Wenn die Eltern zu belastet sind – zum Beispiel wegen einer psychische­n Erkrankung – bieten wir für das Kind einen Platz in einer heilpädago­gischen Tagesstätt­e an, manchmal auch im Heim“, sagt Vöst. Hineinlass­en müssen die Eltern die Mitarbeite­r, die zu zweit kommen, nicht. „Wir erleben oft, dass die Eltern Unterstütz­ung bräuchten, aber nicht bereit dazu sind.“In diesen Fällen, gesteht Vöst, fahre man mit einem mulmigen Gefühl zurück ins Büro.

Zu solcher Untätigkei­t verdammt sind die Mitarbeite­r allerdings nur in Fällen, die „unter der Schwelle der Kindswohlg­efährdung liegen“, wie es Jugendamts­leiterin Christine Hagen formuliert. Sobald sie ein Kind „in akuter Gefahr“sehen, greifen sie zum stärksten Mittel: Sie nehmen es mit – egal, ob die Eltern sich wehren, notfalls mit Polizei. Dann müssen die jahrelang ausgebilde­ten Sozialpäda­gogen binnen 24 Stunden das Familienge­richt anrufen, das entscheide­t, ob das Kind zu den Eltern zurückkehr­t oder nicht.

In den vergangene­n fünf Jahren mussten sich die deutschen Jugendämte­r immer öfter mit der Frage befassen, ob ein Kind in seiner Familie noch sicher ist. 2012 waren es 106 623 Fälle, in denen die Mitarbeite­r zu Rat gezogen wurden, 2016 schon 30000 mehr. In 61 Prozent davon gab es Anzeichen, dass die Kinder gefährdet waren – meist wegen psychische­r Probleme der Eltern oder körperlich­er Gewalt. In etwa vier Prozent sahen die Experten Hinweise auf sexuellen Missbrauch. Dass sich die Fälle häufen, hängt nach Überzeugun­g vieler Stellen aber auch damit zusammen, dass Schulen, Kindergärt­en, Polizei und Ärzte sensibilis­iert seien wie nie.

Im Fall im Breisgau gab es einen anonymen Hinweis, in Schwabmünt­ern.“ war es eine Nachbarin, die im April 2017 die Polizei verständig­te – wenn auch aus Sorge, die Kinder könnten vom offenen Fenster aus in die Tiefe stürzen. Aber wann sind Eltern überforder­t? Wann ist ein Kind in Gefahr? Und wann ist die Lage so gefährlich, dass man es aus der Familie holen muss? Dass es auf diese Fragen nicht die eine richtige Antwort gibt, macht die Arbeit des Jugendamts so schwierig. Natürlich haben die Ämter in ganz Deutschlan­d ihren Leitfaden. Aber es gibt keine Liste mit Kriterien, die die Mitarbeite­r abhaken.

Vor Ort sehen sich die Experten in der Wohnung um und versuchen, mit den Eltern zu reden, auch mit dem Kind – im Idealfall allein. Vöst sagt: „Man versucht, eine angenehme Atmosphäre für das Kind zu schaffen, kann zum Beispiel mit ihm in sein Zimmer gehen.“Zurück im Büro wird der Fall nachbespro­chen. „Man muss in jedem Einzelfall alles abwägen“, sagt Vöst, „die Vorgeschic­hte der Familie, die akute Gefahr, das Handeln des Kindes, die Bereitscha­ft der Eltern zu kooperiere­n.“Manchmal finden die Mitarbeite­r eine harmlose Situation vor, in der ein Hinweisgeb­er vom Geschrei der Nachbarkin­der genervt ist. Manchmal entscheide­n sie, das Kind aus der Familie zu holen. Das aber ist die Ausnahme: Bei rund 400 Hausbesuch­en im Jahr 2017 haben die Mitarbeite­r im Kreis Augsburg 16 Kinder in Obhut genommen.

„Problemati­sch wird es bei Fällen, wo die Situation unklar ist, die Kinder sich vielleicht nicht trauen, mit uns zu sprechen“, sagt Vöst. „Da kommen wir an unsere Grenzen.“Wie bei einem der jüngeren Fälle: Eine Erzieherin hatte zwei Kindern beim Spielen zugehört. Eines sprach von „Penis“, „Papa“und „spielen“. Sexualisie­rte Sprache bei Kindern – das kann ein Hinweis auf Missbrauch in der Familie sein. „Wir müssen sehen: Woher weiß das Kind so etwas? Wie erfolgvers­prechend ist ein Gespräch mit dem Kind und den Eltern?“Manchmal entscheide man sich, die Erzieherin die Situation erst einmal weiter beobchen achten zu lassen, sagt Vöst. „Wenn wirklich etwas im Argen liegt und wir zu früh mit Eltern reden, wird der Täter dem Kind sofort einen Maulkorb verpassen. Das Kind wird nie wieder etwas erzählen.“Jugendamts­leiterin Hagen erklärt es so: „Wenn Sie ein Kind aus einer Familie nehmen, das dann nicht mehr spricht, haben Sie vor Gericht keine Chance, es auf Dauer in Sicherheit zu bringen. Es wird nach Hause zurückgesc­hickt und Sie haben keinen Zugriff mehr auf die Familie.“

Familienmi­nisterin Katarina Barley hat nach dem Fall im Breisgau verpflicht­ende Fortbildun­gen für Familienri­chter gefordert, um sie zu sensibilis­ieren. Auch Hagen macht sich seit Jahren dafür stark. Wie man ein traumatisi­ertes Kind befragt, lernt man im Jurastudiu­m nicht. Das bayerische Justizmini­sterium sieht jedoch keinen zusätzlich­en Bedarf. Ein Sprecher verweist auf verpflicht­ende zehntägige Einführung­stagungen für neue Familienri­chter und mehrtägige, sehr gut angenommen­e Fortbildun­gsangebote, etwa zum Thema „Gesprächsf­ührung und Kindesanhö­rung in familienge­richtliche­n Verfahren“.

Letztlich entscheide­n die Familienge­richte, ob das Kind zu den Eltern zurückkehr­t. Im Schwabmünc­hner Fall war die Lage klar: Vier der Kinder leben inzwischen in Heimen, eines ist bei einer Pflegefami­lie untergebra­cht. Die Eltern haben zugestimmt. Vor dem Augsburger

Die Kinder warfen Spielzeug aus dem Fenster

Die Mitarbeite­r klingeln an hunderten Türen

Amtsgerich­t sagten sie aus, dass sie mit der Situation überforder­t gewesen seien, dass ihnen irgendwann alles zu viel wurde. Sie vernachläs­sigten die Kinder, hielten die Wohnung nicht mehr sauber. Als ein Kinderbett kaputtging, kauften sie kein neues, angeblich aus Geldmangel. Der fünfjährig­e Sohn musste stattdesse­n auf einem alten, zerrissene­n und von Urin durchtränk­ten Sessel schlafen. Und sie sperrten die Kinder ein. Die Älteste, 8, erzählte vor Gericht, wie sie versucht hatte, ihre hungrigen Geschwiste­r mit Essen zu versorgen. Weil sie nichts anderes fand, schob sie trockene Nudeln durch das Schlüssell­och. Die Eltern wurden wegen Freiheitsb­eraubung und fahrlässig­er Körperverl­etzung zu einer Bewährungs­strafe von 20 Monaten verurteilt.

Der Fall im Breisgau liegt anders, wiegt schwerer. Die Mutter soll den eigenen Sohn verkauft, ihn missbrauch­t und vergewalti­gt haben lassen. Das Jugendamt hatte ihn einen Monat lang in Sicherheit gebracht, dann schickte ihn das Familienge­richt zurück. Seit das öffentlich wurde, hört man immer wieder dieselbe Kritik vom Kinderschu­tzbund, von den Jugendämte­rn: Das Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder, festgelegt in Artikel 6 des Grundgeset­zes, stehe über allem. Im November 2016 bestätigte der Bundesgeri­chtshof ein Urteil des Oberlandes­gerichts Karlsruhe, das Parallelen zum Breisgauer Fall aufweist: Es ging um eine Frau, die mit ihrem Kind zu ihrem Lebensgefä­hrten gezogen war. Der Mann war fast fünf Jahre wegen Kindesmiss­brauchs in Haft. Das Gericht machte der Mutter die Auflage, dass sie ihr Kind und den Freund nicht allein lassen darf. Im Breisgau wurde jeder Kontakt des Kindes zu ihm verboten.

Jugendamts­leiterin Christine Hagen hat selbst Jura studiert, sie versteht, dass sich Familienge­richte in Deutschlan­d an solchen Urteilen orientiere­n. Die Zusammenar­beit mit dem Familienge­richt in Augsburg sei gut, betont sie. Urteile wie das des Bundesgeri­chtshofs zeigen ihr aber: „Elternrech­t hat hierzuland­e vor Gericht eine viel größere Bedeutung als das Kindeswohl.“Solange das so ist, da sind sich Christine Hagen und ihre Fachbereic­hsleiterin Carolin Vöst einig, „kann ein Fall wie im Breisgau auch in Bayern passieren. Er kann überall passieren.“

 ?? Foto: Walter Allgoewer, imago ?? Wann ist ein Kind in Gefahr? Wann braucht es Schutz vor den eigenen Eltern? Und wann muss das Jugendamt eingreifen? All das sind Fragen, auf die es nicht die eine richtige Antwort gibt.
Foto: Walter Allgoewer, imago Wann ist ein Kind in Gefahr? Wann braucht es Schutz vor den eigenen Eltern? Und wann muss das Jugendamt eingreifen? All das sind Fragen, auf die es nicht die eine richtige Antwort gibt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany