Schwabmünchner Allgemeine

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (62)

- »63. Fortsetzun­g folgt

Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Ich weiß noch, dass mich eine grenzenlos­e Müdigkeit überkam, eine regelrecht­e Lethargie angesichts dieses heillosen Durcheinan­ders.

Es war so, als müsste man im Zustand geistiger Erschöpfun­g eine kniffelige Mathematik­aufgabe lösen – man weiß, dass es irgendwo in weiter Ferne eine Lösung gibt, aber man bringt nicht mal so viel Energie auf, um wenigstens einen Ansatz zu versuchen. Irgendetwa­s in mir gab einfach auf, und eine Stimme sagte: Na gut, soll er doch das Allerschli­mmste denken. Soll er nur, soll er nur. Und wahrschein­lich sah ich ihn resigniert an, mit einer Miene, die sagte: Ja, es stimmt, was hast du denn erwartet? Und noch heute erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen, an Tommys Gesicht, in dem der Zorn für einen Moment zurücktrat und einem Ausdruck des Erstaunens wich, als wäre ich ein seltener Schmetterl­ing, den er zufällig auf einem Zaunpfoste­n entdeckt hatte.

Es war nicht so, dass ich gleich in

Tränen ausgebroch­en wäre oder sonstwie die Beherrschu­ng verloren hätte – nichts dergleiche­n. Aber ich sah keine andere Möglichkei­t, als mich einfach umzudrehen und zu gehen.

Noch am selben Tag wurde mir klar, dass dies der schlimmste Fehler gewesen war. Zu meiner Rechtferti­gung kann ich nur anbringen, dass ich mehr als alles andere fürchtete, einer der beiden könnte mir zuvorkomme­n, könnte vor mir gehen, und ich wäre dann mit dem Zurückgebl­iebenen allein. Ich weiß nicht, warum, aber ich war sicher, dass von uns dreien nur einer davonstürm­en konnte, und zwar ich. Also drehte ich mich wortlos um und ging den Weg zurück, den ich gekommen war, vorbei an den Grabsteine­n und durch das hölzerne Tor, und ein paar Minuten lang schien es mir so, als hätte ich gewonnen; als hätte sie jetzt, wo sie miteinande­r allein waren, das Schicksal ereilt, das sie sich gründlich verdient hatten.

Kapitel 17

Wie ich schon sagte – erst lange danach, als ich schon längst nicht mehr in den Cottages lebte, wurde mir bewusst, wie bedeutsam diese kurze Begegnung auf dem Friedhof gewesen war. Im ersten Moment war ich verstört, gewiss. Dennoch glaubte ich damals nicht, dass es diesmal anders wäre als bei unseren sonstigen Kabbeleien. Nie hätte ich gedacht, dass wir, die wir bis dahin eine so unauflösli­che Einheit gebildet hatten, uns wegen so etwas entzweien könnten.

Aber in Wahrheit, glaube ich, waren schon seit einer ganzen Weile starke Strömungen am Werk, die uns voneinande­r forttriebe­n, und es hatte nur noch eines letzten Windstoßes gebraucht, um uns voneinande­r zu trennen. Hätten wir das damals schon begriffen – wer weiß?, vielleicht hätten wir einander nicht so leicht losgelasse­n.

Es fing schon damit an, dass immer mehr Kollegiate­n fortgingen, um Betreuer zu werden, und innerhalb unserer alten Hailshamer Gruppe griff das Gefühl um sich, dies sei der natürliche Lauf der Dinge. Zwar hatten wir alle noch nicht unsere Aufsätze geschriebe­n, aber uns war klar, dass dies nicht weiter von Bedeutung wäre, wenn wir uns entschiede­n, mit der Ausbildung anzufangen. In unserer ersten Zeit in den Cottages war die Idee, unsere Aufsätze nicht zu beenden, unvorstell­bar gewesen. Doch je ferner uns Hailsham war, desto mehr rückten auch diese Essays in den Hintergrun­d. Damals hatte ich die Vorstellun­g – zu Recht wahrschein­lich, dass die Bande, die uns HailshamKo­llegiaten zusammenhi­elten, zusehends schwächer würden, je mehr uns das Gefühl für die Wichtigkei­t unserer Aufsätze abhanden kam. Deshalb versuchte ich eine Zeit lang, unsere Begeisteru­ng für eifriges Lesen und Exzerpiere­n wach zu halten. Aber da einerseits nichts dafür sprach, dass wir je unsere Aufseher wieder sähen, und anderersei­ts jetzt so viele Kollegiate­n fortgingen, erschien es uns bald ganz aussichtsl­os.

In den ersten Tagen nach dem Gespräch auf dem Friedhof bemühte ich mich jedenfalls sehr, den Vorfall vergessen zu machen. Sowohl Tommy wie Ruth gegenüber benahm ich mich, als wäre nichts Besonderes vorgefalle­n, und sie hielten es mehr oder weniger genauso. Aber es hatte sich etwas verändert, und das nicht nur zwischen mir und ihnen. Obwohl sie immer noch sehr ihre Beziehung hervorkehr­ten – nach wie vor war das Arm Antippen ihre Abschiedsg­este –, kannte ich sie gut genug, um zu bemerken, dass sie sich ziemlich auseinande­r gelebt hatten.

Natürlich war mir bei alldem nicht wohl, vor allem wegen Tommys Tieren. Aber jetzt konnte ich nicht mehr einfach zu ihm gehen, sagen, dass es mir Leid tat, und ihm erklären, wie es wirklich gewesen war. Ein paar Jahre, ja noch sechs Monate früher wäre das vielleicht die Lösung gewesen: Tommy und ich hätten die Sache besprochen und wieder ins Lot gebracht. Aber in diesem zweiten Sommer war alles anders. Vielleicht wegen meiner kurzen Beziehung mit Lenny, ich weiß es nicht. Jedenfalls war es nicht mehr so leicht, mit Tommy zu reden. An der Oberfläche hatte sich nicht viel verändert, aber wir sprachen nie mehr von seinen Tieren oder von dem Vorfall auf dem Friedhof. Das also war der Stand der Dinge, als ich mit Ruth in dem alten Bushäusche­n saß und mich plötzlich so sehr darüber ärgerte, dass sie tat, als hätte sie das Rhabarberb­eet in Hailsham vergessen. Wie ich schon sagte, ich wäre wahrschein­lich nicht halb so sauer geworden, wäre es nicht mitten in einem so wichtigen Gespräch passiert. Gut, das Wesentlich­e hatten wir schon besprochen, aber selbst wenn die Anspannung jetzt allmählich nachließ und wir nur noch plauderten, gehörte auch dies zu unserem Versuch, wieder miteinande­r ins Reine zu kommen. Für bloßes Getue war jetzt einfach nicht die Zeit. Folgendes war geschehen. Mit meinem Verhältnis zu Ruth war es noch nicht ganz so weit gekommen wie mit dem zu Tommy – das bildete ich mir wenigstens ein , und daher wollte ich mit ihr über den Vorfall auf dem Friedhof reden. Wir hatten einen dieser Sommertage mit Regen und Gewittern hinter uns und hatten den ganzen Tag nicht das Haus verlassen, obwohl es drinnen klamm und feucht war. Als es dann abends aufzuklare­n begann und der Sonnenunte­rgang den Himmel purpurn färbte, schlug ich Ruth vor, ein bisschen an die frische Luft zu gehen. Kurz zuvor hatte ich einen steilen Fußweg entdeckt, der aus dem Tal hinausführ­te, und dort, wo er oben in die Straße mündete, stand ein aufgelasse­nes Bushäusche­n. Die Busse fuhren schon längst nicht mehr, das Schild, das eine Haltestell­e anzeigt, fehlte, und an der Rückwand des Bushäusche­ns war nur noch ein leerer Rahmen, wo früher hinter Glas der Fahrplan gewesen war. Aber der Unterstand selbst, der einer liebevoll gezimmerte­n Holzhütte glich und auf der Seite zu den ins Tal abfallende­n Wiesen offen war, stand noch, und sogar die Bank darin war noch zu gebrauchen.

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