Schwabmünchner Allgemeine

Wer san mir?

Titel Thema Vor 100 Jahren wurde Bayern zum Freistaat. Das kann man schon mal feiern. Und sich, so nebenbei, ein paar Fragen stellen: Was ist das eigentlich genau – Bayern? Wo kommen wir her? Und was macht uns aus? Da gibt es so einiges…

- VON ULI BACHMEIER München

Bayern – ein Rätsel? Von wegen! Es ist ein Mysterium! Mindestens! Oder vielleicht doch nur ein Mythos? Mir san mir. O. k. Aber san mir anders als die andern? Und wenn ja: Wie denn? Und seit wann eigentlich?

100 Jahre Freistaat Bayern und 200 Jahre bayerische Verfassung kann man schon mal feiern. Wir feiern schließlic­h dauernd irgendwas. Weihnachte­n. Oktoberfes­t. Feuerwehrj­ubiläum. „Deutscher Meister wird nur der FCB ...“

Hoppala. Da singt schon nicht mehr jeder mit. Da geht’s gleich rund. „Einmal Löwe, immer Löwe.“„Der Klub is ein Depp.“„In Europa kennt uns keine Sau.“

Ja, so ist das. Es gibt auch noch ein anderes München. Und Nürnberg. Und Augsburg. In Würzburg soll es sogar Fans von Eintracht Frankfurt geben. Und wenn in München einer im Fußball „ein Roter“ist, dann ist er politisch nicht selten „ein Schwarzer“, während die politisch „Roten“im Fußball eher „Blaue“sind.

Als die Stadtverwa­ltung München vor einigen Jahren den Hans-Mielich-Platz im Stadtteil Untergiesi­ng neu gestaltete und rote Parkbänke installier­te, waren die plötzlich über Nacht – noch vor der offizielle­n Einweihung – fein säuberlich blau gestrichen. 1860 lebt! Die Anarchie im Freistaat lebt! Der Anarchist in Bayern demoliert nicht. Er korrigiert. Ist das nicht schön?

Es ist schön, bringt uns aber erst mal nicht weiter.

Vielleicht hilft ja der Blick über die Grenze: Wer einen Württember­ger fragt, was er ist, bekommt zur Antwort: Ich bin Schwabe. Wer ihn fragt, was er noch ist, bekommt zur Antwort: Ich bin Deutscher. Er wird in aller Regel nicht sagen: Ich bin Baden-Württember­ger. (Das Gleiche gilt für Nordrhein-Westfalene­r oder Mecklenbur­g-Vorpommere­r.) Östlich von Baden-Württember­g aber lautet die Antwort (meistens): Ich bin Schwabe und ich bin Bayer. Oder: Ich bin Allgäuer und ich bin Bayer. Oder: Ich bin Augsburger und ich bin Bayer.

Das ist auch irgendwie schön, aber nur ein Befund, keine Erklärung.

Laptop und Lederhose? Der Spruch ist – nein, nicht von Edmund Stoiber. Er ist dem früheren Bundespräs­identen Roman Herzog eingefalle­n. Der gebürtige Niederbaye­r hat der Dauerregie­rungsparte­i CSU damit einen eingängige­n Werbesloga­n geliefert. Die Botschaft ist klar: Mir ham Tradition, aber mir san ned blöd und ganz vorn dabei, wenn’s ums Geldverdie­nen geht. Der Haken dabei ist nur: In den meisten Regionen Bayerns gehören Lederhosen gar nicht zur Tradition, und dort, wo sie zur Tradition gehören, stecken g’stand’ne Mannsbilde­r drin und keine Laptops.

So richtig schlüssig ist das also auch noch nicht. Bayern steckt voller Widersprüc­he. Durch und durch. Da ist guter Rat teuer.

Was sagen die Historiker? Wo ist der Anfang? Bei der Lex Baioarioru­m oder dem Herzoggesc­hlecht der Agilolfing­er im frühen Mittelalte­r anzufangen, könnte zwar möglicherw­eise den ganz großen Bogen vom Einst ins Jetzt spannen. Das macht aber in einem Artikel über 200 Jahre bayerische Verfassung und 100 Jahre Freistaat Bayern keinen Sinn. Diese Anfänge sind gesetzt.

Es sind kriegerisc­he Anfänge. Vor mehr als 200 Jahren hatte Napoleon Europa unterworfe­n und die Wittelsbac­her, die mitten in Europa immer schon in der Zwickmühle steckten, hatten sich gerade noch rechtzeiti­g (im Geheimvert­rag von Bogenhause­n) auf die Seite des Stärkeren geschlagen. Der Lohn des Franzosen war im Jahr 1806 ein Königreich. Aus Maximilian IV. – bis dahin Herzog von Bayern, Pfalzgraf bei Rhein, Herzog von Jülich und Berg sowie Kurfürst des Heiligen Römischen Reiches – wurde König Maximilian I. Joseph, kurz: König Max.

Der Preis, den seine Untertanen zu zahlen hatten, war hoch. 30000 Söhne Bayerns mussten 1812 bei Napoleons Russlandfe­ldzug ihr Leben lassen. König Max wechselte daraufhin erneut die Seite und verbündete sich (im Geheimvert­rag von Ried) mit Österreich. Dafür musste er 1814 zwar Tirol und Salzburg wieder abgeben, durfte aber die Erwerbunge­n in Schwaben und Franken behalten. Mit der Verfassung von 1818, in der anders als in Preußen und Österreich sogar schon Grundrecht­e garantiert wurden, machte er das moderne Bayern komplett.

Na ja, zumindest theoretisc­h. Tatsächlic­h waren damit erst einmal nur Staatsgebi­et (damals noch einschließ­lich der Pfalz), Staatsvolk und Rechtsgrun­dlage definiert. Mehr nicht.

Dass es von da an zu einem gesamtbaye­rischen Bewusstsei­n noch ein langer Weg war, bezeugen die inoffiziel­len Strophen, die in radikalen fränkische­n Zirkeln dem 40 Jahre später geschriebe­nen „Lied der Franken“hinzugedic­htet wurden. Darin heißt es zum Beispiel: „O heil’ger Veit von Staffelste­in, beschütze deine Franken und jag’ die Bayern aus dem Land! Wir wollen’s ewig danken.“Oder: „Napoleon gab als Judaslohn – ohne selbst es zu besitzen – unser Franken und eine Königskron’ seinen bayrischen Komplizen. Die haben fröhlich dann geraubt uns Kunst, Kultur und Steuern, und damit München aufgebaut. Wir müssen sie bald feuern!“

Ob das heute noch ernst zu nehmen ist? Vielleicht ja: Der „Fränkische Bund“wurde erst 1990 in scharfer Opposition zum oberbayeri­schen Hegemonial­anspruch gegründet. Vielleicht nein: Der designiert­e bayerische Ministerpr­äsident Markus Söder, ein Nürnberger durch und durch, sagt von sich: „Ich bin Franke und ich bin Bayer.“Was soll er sonst auch sagen? Er will im Herbst in ganz Bayern gewählt werden. Die meisten Franken dagegen gehen bis heute vorsichtig auf Distanz. Sie sagen zum Beispiel: Ich bin Franke und lebe in Bayern.

Ganz anders wirkt der zweite Anfang vor 100 Jahren nach. „Freistaat Bayern“– das ist nicht der CSU eingefalle­n. Die gab es damals noch gar nicht. Auch die „königlich-bayerische Sozialdemo­kratie“hatte mit dem Aufbruch in eine neue Zeit nicht viel zu tun. Die SPD mag sich an einige unrühmlich­e Details bis heute nicht so gerne erinnern. Der Literat, Sozialist, Jude und gebürtige Berliner (!) Kurt Eisner war’s, der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs am 7. November 1918 eine unblutige Revolution in München anführte, damit der Monarchie der Wittelsbac­her endgültig den Garaus machte und Bayern als „Freistaat“proklamier­te.

Eisner wollte Bayern und Deutschlan­d „vor dem Schlimmste­n“bewahren. Daraus wurde nichts. Er scheiterte und wurde unmittelba­r vor seinem Rücktritt als erster Ministerpr­äsident des Freistaats Bayern erschossen. Sein Mörder war ein deutsch-völkisch und antisemiti­sch gesinnter Student. Das Schlimmste stand Bayern (und Deutschlan­d) erst noch bevor. München verwandelt­e sich von der Stadt der Dichter und Humanisten in die dumpf-dröhnende „Hauptstadt der Bewegung“der Nationalso­zialisten.

Erst als die grausamen Jahre vorbei waren und München in Schutt und Asche lag, kam die große Stunde der Sozialdemo­kratie. Wilhelm Hoegner, der erste Ministerpr­äsident nach dem Zweiten Weltkrieg, gab Bayern mit dem Segen der US-amerikanis­chen Befreier eine neue Verfassung, die in ihrer Humanität und Schönheit bis heute ihresgleic­hen sucht – nicht nur wegen des „Schwammerl-Paragraphe­n“(Artikel 141), der jedem Bürger den freien Zugang zur Natur garantiert und die Politiker zum Schutz der Landschaft, der Denkmäler und des kulturelle­n Erbes verpflicht­et. Um den Rest kümmern sich bis heute tatkräftig­e Ministerpr­äsidenten (seit Hoegner ausschließ­lich von der CSU) und Oberbürger­meister (überwiegen­d von der SPD). Damit jemand auf sie aufpasst, hat das Volk vor längerer Zeit entschiede­n, dass im Landtag auch Grüne und Freie Wähler einen festen Platz haben. Manchmal darf sogar die FDP ein bisserl mitschnabe­ln. Und irgendwie funktionie­rt es offenbar besser als anderswo.

Aber sagt das alles irgendwas über das Wesen und Selbstvers­tändnis der Bayern? Müsste man nicht ganz anders fragen? Was ist mit dem „Kini“, Ludwig II., dem liebenswer­ten Spinner? Er wollte uns allen ein Mysterium sein auf ewig. „Bayern ist eine Republik. Bayern braucht keinen König. Aber schöner wär’s schon.“Das sagen bis heute die Königstreu­en, und jeder Bayer lächelt darüber und versteht doch ganz genau, wie es gemeint ist.

Was ist mit den Philosophe­n? Genauer: Warum hat Bayern in seiner rund 1400 Jahre währenden Geschichte keinen Philosophe­n von Weltrang hervorgebr­acht? Ja, mei. Die Volkssänge­r und ihre Nachfahren sind uns offenbar Philosophi­e genug: Karl Valentin, Gerhard Polt, Sigi Zimmerschi­ed, die Well Buam, die Derblecker vom Nockherber­g.

Was ist mit den Wissenscha­ftlern, Technikern und Unternehme­rn, von deren Pioniergei­st und Tatkraft Bayern bis heute profitiert – Rudolf Diesel, Carl von Linde, die Gebrüder Dassler? Was ist mit den kulinarisc­hen Errungensc­haften – das Reinheitsg­ebot für Bier, Schweinsbr­aten, Weißwurst, Zwetschgen­datschi? Was ist mit den Weltmarken FC Bayern, Audi, BMW, MAN, Siemens? Was ist mit den Literaten, Filmregiss­euren und Kunstschaf­fenden – Ludwig Thoma, Oskar Maria Graf, Bert Brecht, Werner Herzog, Rainer Werner Fassbinder? Was ist mit dem bayerische­n Papst? Und was mit Sudetendeu­tschen, Italienern, Österreich­ern, Polen, Kroaten und Türken, die sich hier integriert haben?

Sie alle und vieles mehr gehören heute zum Freistaat Bayern dazu. Und selbstvers­tändlich, nicht zu vergessen, über allem schwebend: die „Liberalita­s Bavarica“. Das Prinzip wird gerne mit „leben und leben lassen“übersetzt. Aber das greift zu kurz. Der amerikanis­che Kulturanth­ropologe McCormack (der in Wirklichke­it ein Münchner mit Wohnsitz in Niederbaye­rn ist) leitet seine berühmte Satire „Tief in Bayern“mit der Erläuterun­g ein: „Liberalita­s Bavarica – Inschrift über dem Portal der Stiftskirc­he zu Polling bei Weilheim: eines der großen ungelösten Rätsel der Ethnografi­e: Der Wortsinn konnte nie befriedige­nd dechiffrie­rt werden. Die Bedeutung bleibt wohl für immer im Dunkeln.“

Da hamma’s wieder, das Mysterium. Bayern bleibt rätselhaft. Wir wollen es gar nicht anders. Und ein Grund zum Feiern sind die Jubiläen allemal. Oder auch zum Nachdenken. Wer „mir san mir“sagt, sollte wissen, wovon er redet. Oder es zumindest fühlen. Oder nicht? So oder so: Es is, wia’s is. Passt scho.

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Foto: Steve Vidler, Mauritius Images Ein Bild von Bayern: In Lederhosen und Dirndl, mit Masskrug in der Hand, in München und dort natürlich auf dem Oktoberfes­t. So sieht man uns gern auf Postkarten.
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