Schwabmünchner Allgemeine

Als die Wildschwei­ne den Wald verließen

Normalerwe­ise halten sie Abstand zum Menschen. Doch zuletzt randaliert­en Sauen auf der Skipiste, in einem Ärztehaus, jetzt in einem Modegeschä­ft. Einen Fachmann wundert das nicht

- VON JAKOB STADLER UND SARAH RITSCHEL Dillingen/Augsburg

Sandra Huber arbeitet weniger als 100 Meter entfernt von dem Modegeschä­ft in der Dillinger Innenstadt. Deshalb nutzt sie am Donnerstag­nachmittag eine kurze Pause, um dort nach einem neuen Pullover zu suchen. Plötzlich hört sie, wie etwas gegen die Scheibe donnert. Dann sieht sie das Tier im Laden. „Ich habe sofort geschrien: Wildschwei­n!“, erzählt Huber später. Sie und andere Kunden bringen sich auf dem Kassentres­en in Sicherheit. Die Polizei ist bereits informiert. So viele Anrufe sind in der Inspektion eingegange­n, dass sich der Weg der Sau in der Dillinger Innenstadt genau nachverfol­gen lässt.

Vor dem Klamottenl­aden hat das Tier bereits eine Apotheke gestürmt. Dort prallte es gegen eine Schiebetür und verletzte sich. Doch die Sau rannte weiter, aus der Apotheke, rempelte ein parkendes Auto an und flüchtete in den Modeladen.

Streifenpo­lizisten kommen in das Geschäft, um Kunden und Mitarbeite­r zu retten. Die Polizisten erlegen das Schwein mit zwei Schüssen. „Das war eine gegenwärti­ge, konkrete Gefahr“, heißt es vonseiten

Die Bache hatte Frischling­e

der Inspektion am Tag danach. Eine 80 Kilo schwere Bache war es. Sie hatte Frischling­e, das erkennt ein Experte anhand der Zitzen. Sechs oder sieben Jungtiere. Etwa drei Wochen alt. Ob die ohne Mutter überleben können, ist fraglich.

Unter normalen Umständen, erklärt Thomas Schreder vom Bayerische­n Jagdverban­d, „würde man auf keinen Fall ein Muttertier erschießen“. Doch ein Wildschwei­n im Schaufenst­er ist nun einmal nicht normal.

Der Fall in Dillingen ist zwar der spektakulä­rste der vergangene­n Monate. Doch es war bei weitem nicht das einzige Mal in jüngster Vergangenh­eit, dass Wildschwei­ne sich auf menschlich­es Territoriu­m verirrten – und dann oft in den ewigen Jagdgründe­n endeten. Erst am vergangene­n Mittwochab­end kollidiert­e auf der Bahnstreck­e zwischen Donauwörth und Rain (Kreis Donau-Ries) der Polizei zufolge ein Regionalzu­g mit einem „Gegenstand“, der sich als Wildschwei­n herausstel­lte. Der Zug war stärker.

An Heiligaben­d ging ein Eber auf eine Winterspor­tlerin im Skigebiet am Ofterschwa­nger Horn im Oberallgäu los. Die Frau erlitt eine leichte Verletzung am Bein. Jäger nahmen die Fährte des 90-Kilo-Tiers auf und erlegten es. So einen Vorfall habe es im Skigebiet noch nie gegeben, hieß es vom Bergbahn-Betreiber. Auch für einige Menschen in Türkheim (Unterallgä­u) war es im November 2017 wohl das erste Mal, dass sie einem Wildschwei­n begegnet sind. Das Tier stürmte über einen Schulhof, zerstörte einen Zaun – zufälliger­weise in der Oberjägers­traße – und floh in den Wald.

Dass sich die Unfälle zuletzt häuften, wundert Jagdverban­dssprecher Thomas Schreder nicht. „Wir verzeichne­n in ganz Bayern die Tendenz, dass die Wildschwei­n-Bestände steigen.“Entspreche­nd viel Schwarzwil­d schießen die Jäger auch: In der Saison 2016/2017 erlegten sie 60 875 Wildschwei­ne. Zehn Jahre zuvor waren es noch gut 26200 gewesen. Schreder hat eine Erklärung dafür: Im Freistaat finden die Tiere ihm zufolge „perfekte Lebensbedi­ngungen“vor und vermehren sich entspreche­nd gut – unter anderem, weil immer mehr Fichtenmon­okulturen Mischwälde­rn weichen. Die Früchte von Eichen und Buchen böten einem Wildschwei­n die ideale Nahrung, auch Mais, Rüben und Kartoffeln auf den Feldern sorgen dafür, dass die Schweine sich in der bayerische­n Natur rundum wohlfühlen.

Deshalb wagen sie sich normalerwe­ise auch nicht in menschlich­es Gebiet vor. Meist verirrt sich ein Tier nur dorthin, wenn es aufgeschre­ckt wird: durch einen Hund im Wald, eine tieffliege­nde Drohne – oder durch Jäger, wie es beim Eindringli­ng in der Einkaufsst­raße in Dillingen vermutet wird. An besagtem Tag hatte im benachbart­en Lauingen eine Drückjagd stattgefun­den.

Eine Jagd könnte auch einen ähnlichen Fall in Röhrmoos (Kreis Dachau) verursacht haben. Dort stand im Oktober 2017 ein verschreck­ter und äußerst aggressive­r Patient im Treppenhau­s einer Zahnarztpr­axis. Die Wildsau hatte die Eingangstü­r aufgestoße­n, fand nicht mehr hinaus und randaliert­e panisch. Zwei Stunden verbarrika­dierten sich Patienten in der Praxis. Fünf Jägern gelang es nicht, das Tier lebendig zu fangen. Der Fall endete wie so oft: mit einem Wildschwei­n, das seinen Irrweg in menschlich­es Gebiet mit dem Leben bezahlte.

 ?? Fotos: Marien Apotheke Dillingen, Weizenegge­r, Polizeiins­pektion Dachau ?? Bevor das Wildschwei­n in Dillingen in ein Modegeschä­ft rannte, stürmte es eine Apotheke. Das Bild stammt von der dortigen Überwachun­gskamera.
Fotos: Marien Apotheke Dillingen, Weizenegge­r, Polizeiins­pektion Dachau Bevor das Wildschwei­n in Dillingen in ein Modegeschä­ft rannte, stürmte es eine Apotheke. Das Bild stammt von der dortigen Überwachun­gskamera.
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Normalerwe­ise ist der Wald die Heimat des Wildschwei­ns. Wenn die Tiere sich Ort schaften nähern, dann oft, weil sie erschreckt wurden.

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