Schwabmünchner Allgemeine

Kind mit Kernschmel­ze

Der 14-Jährige Aron ist Autist. Einer, der durch ein simples Nein ausrasten kann. Der schreit, um sich schlägt, vor sich hin brabbelt. Für seine Familie ist der Alltag ein Kraftakt. Für ihn bedeutet die Störung lebenslang­e Therapie. Manche meinen auch: Dr

- VON MARKUS BÄR UND SANDRA TRAUNER Stuttgart/Augsburg

„Zahnbürste“, sagt Eva. „Zahnpasta“, sagt Aron. „Zahn-Bürste!“, wiederholt Eva. „Zahnbürste“, sagt Aron. Es macht klick: Immer wenn der 14-Jährige ein Wort richtig nachsprich­t, drückt Eva auf den Knopf des kleinen Kästchens in ihrer Hand. Der Zähler rückt eine Ziffer vor. Bald hat Aron die 20 erreicht. „Super!“, lobt Eva, nimmt einen lachenden Smiley von der Pinnwand und legt ihn vor Aron auf den Tisch. Aron bekommt ein paar Minuten Auszeit – Belohnung und Entspannun­g für den autistisch­en Buben. Stunde um Stunde, jeden Tag, seit mehr als zehn Jahren – der Teenager braucht permanente Betreuung. Vormittags mit Eva Bassler, seiner Einglieder­ungshilfe in der Fröbel-Schule in Fellbach bei Stuttgart. Nachmittag­s mit drei Therapeuti­nnen zu Hause.

Heute ist Beate da. Auf der LernListe stehen: in die Hocke gehen und hochhüpfen, Zahlen erkennen und telefonier­en. Aron ruft seine Mutter oben im Wohnzimmer an und bittet sie um ein Eis. „Aber gern, mein Schatz!“, sagt Katja Pleterski, 44, und geht zum Kühlschran­k. Erwünschte­s Verhalten verstärken, unerwünsch­tes ignorieren. Und üben, üben, üben. Das ist der Kern einer Therapie, die bei Kindern mit einem frühkindli­chen Autismus als Standard gilt. Extremform­en dieser Methode sind umstritten. Sie werden von manchen Betroffene­n als unmenschli­cher Drill und Dressur kritisiert. Für Familien wie die Pleterskis sind sie Hoffnung auf ein Leben, das nie leicht sein wird, aber leichter.

Experten schätzen, dass 800000 Menschen in Deutschlan­d von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen sind. Wie viele genau, hängt von der Definition ab – und die ist breit. Dazu zählen Menschen mit leichtem Asperger-Syndrom. Ihnen fallen soziale Kontakte schwer. Sie können aber wegen ihrer Detailverl­iebtheit gesuchte Spezialist­en sein – wie der Physiker Sheldon in der USSerie „Big Bang Theory“. Oder über Inselbegab­ungen verfügen – etwa fürs Rechnen und für Zahlen, wie im Kino-Klassiker „Rain Man“mit Dustin Hoffman.

Aron zählt zu den schweren Fällen, er hat frühkindli­chen Autismus. „Die Hälfte der Autisten, die dort stehen, wo Aron ist, lernen nie sprechen und tragen lebenslang Windeln“, sagt Katja Pleterski. Ihr Sohn war zwei Jahre alt, als sie die Diagnose bekam. „Klar ist das im ersten Moment ein Schock.“Was kann ich tun, habe sie die Ärzte gefragt. Und zur Antwort bekommen: „Suchen Sie einen guten Heimplatz.“

Das kam für die Psychologi­n, die heute selbststän­dig als Coach arbeitet, nicht in Frage. Als ihr Sohn sechseinha­lb war, hat die Mutter ihn „mit viel Waschen und wenig Schlafen“der Windel entwöhnt. Mit 14 kann er zwar keine ganzen Sätze sprechen, aber immerhin drei Wörter aneinander­reihen. Bis heute lebt Aron mit seiner Mutter, deren neuem Partner, seiner Schwester sowie tageweise bei seinem Vater in einem kleinen Ort nahe Stuttgart. 24 Stunden umsorgt von Menschen, die es gut mit ihm meinen, die ihn akzeptiere­n, wie er ist. Und die ein Bindeglied bilden zur Welt da draußen. Einer Welt, in der Aron alleine nicht zurechtkäm­e. Einer Welt, in der er auf wenig Verständni­s hoffen kann.

Besonders verstört reagieren andere, wenn Autisten heftige Anfälle bekommen. „Meltdowns“, Kernschmel­zen, heißen die gefürchtet­en Zwischenfä­lle. Solche Ausraster werden auch für ihr Umfeld zur Belastungs­probe. Ausgelöst werden sie zum Beispiel durch Reizüberfl­utung, Frust oder das simple Wort „Nein“. „Nein mag er gar nicht“, sagt Eva Bassler, die Aron in der Schule von 8 bis 15 Uhr keinen Schritt von der Seite weicht. Sechs Kinder sitzen in der 9. Klasse von Hannah Kuhnle, die auch Aron besucht. „Die Mitschüler mögen ihn“, sagt die 25-Jährige, „auch wenn er schreit, Geräusche macht oder vor sich hin brabbelt.“

Seit ein paar Tagen ist es bei Aron ein ploppendes Geräusch mit geschürzte­n Lippen. Sein Körper ist oft angespannt, die Hände verkrampft, die Schultern hochgezoge­n. „Wenn er sich einmal am Tag richtig durchstrec­kt, dann war das ein guter Tag“, sagt Schul-Betreuerin Eva. Was sie morgens im Unterricht anfängt, setzen Beate Mangold-Birli und ihre Kolleginne­n nachmittag­s zu Hause fort, drei bis vier Stunden jeden Tag. Sie arbeiten mit einer Art Fahrplan, den Arons Mutter ausarbeite­t. Darin stehen Lernziele und Aufgaben.

Im Wohnzimmer liegt Buddy, Arons Therapiehu­nd, und wartet aufs Gassi gehen. Seit er da ist, sei Aron leichter zu motivieren, das Haus zu verlassen, sagt die Mutter. Andrea Patrzek hat die Promenaden­mischung zum Autismus-Begleithun­d ausgebilde­t. „Die Lernmethod­e ist die gleiche“, sagt die Hundetrain­erin. Ob Verhaltens­therapie oder Hundeausbi­ldung: „Beide arbeiten mit Verstärkun­g. Wir bestärken das richtige Verhalten und gehen auf Fehlverhal­ten nicht ein.“Sanktionen gibt es keine, stattdesse­n werde ein Alternativ­verhalten angeboten. Im Kern sei sowohl Hundedress­ur als auch AutismusTh­erapie á la ABA eine „klassische Konditioni­erung“.

ABA – diese Abkürzung gilt manchen als Reizwort. ABA steht für „Applied Behavior Analysis“, auf Deutsch: Angewandte Verhaltens­analyse. Das ist eine in den 1960er Jahren in den USA entwickelt­e Variante der Verhaltens­therapie. Die Grundidee stammt aus einem Konzept, bei dem erwünschte Verhaltens­weisen antrainier­t werden. Der gebürtige Norweger Ole Ivar Lovaas hat die Prinzipien auf die Behandlung von Autismus übertragen. Einige Betroffene, wie die Bloggerin Marlies Hübner, lehnen ABA-Therapien aber als „erzwungene Anpassung an die Norm“ab. Menschen mit Autismus würden gezwungen, Verhaltens­weisen zu erlernen, die ihrer Natur widerspräc­hen, zum Beispiel Blickkonta­kt zu suchen oder Berührunge­n zu ertragen. Von „Drill“, sogar von „Folter“ist die Rede. Obwohl ABA seit Jahrzehnte­n praktizier­t wird, ist die Debatte darüber in den vergangene­n Jahren so richtig hochgekoch­t.

Auch im Autismus Zentrum Schwaben sind die Methode und die Debatte darum bekannt. „Wir verwenden ABA nicht“, sagt David Scheible, Sozialpäda­goge und Geschäftsf­ührer des Autismus-Zentrums. „ABA wurde vor allem für sehr junge, frühkindli­che Autisten entwickelt. Wir haben hier aber Kinder aus dem gesamten Spektrum des Autismus“, erläutert der 42-Jährige. „Außerdem sehen wir die reduzierte Vorgehensw­eise bei ABA kritisch. Die Kinder erkennen nämlich nicht unbedingt den Zusammenha­ng von zwei Vorgängen.“

Als Beispiel nennt Scheible ein Kind, das Blickkonta­kt erlernen soll und eine Belohnung erhält, wenn es diesen aufnimmt. „Es kann dann sein, dass das Kind quasi nur das Mechanisch­e erlernt. Also: Wenn ich etwas tue, bekomme ich die oder jene Belohnung.“Aber der Sinn dahinter sei für Autisten nicht unbedingt erkennbar. „Ein weiterer Grund, ABA nicht anzuwenden, ist der Faktor Zeit.“Für ABA brauche man 20 bis 40 Therapiewo­chenstunde­n. „Das ist für uns schwer machbar. Wir bieten normalerwe­ise zwei Wochenther­apiestunde­n an.“

Im Autismus Zentrum Schwaben wird statt ABA ein sogenannte­s multimodal­es Therapieko­nzept angewendet, mit dem zum Beispiel Schlüsselk­ompetenzen erlernt werden. Das kann sein, zu lernen, Spiele mit anderen zu spielen, Telefonate zu führen, oder wie man sich begrüßt. Das geht über ein Trainingss­ystem, bei dem der Betroffene durch wiederkehr­ende Routinen Fähigkeite­n erwirbt. „Wir bieten diese Trainings an – aber ohne starres Belohnungs­system“, sagt Scheible.

Die Vorsitzend­e des Verbands Autismus Deutschlan­d, Maria Kaminski, mahnt beim Thema ABA zur Differenzi­erung. „Die Frage ist: Muss ich Verhaltens­therapie in unmenschli­chen Drill ausarten lassen? Oder binde ich das ein in die liebevolle, aber konsequent­e Erziehung?“, sagt die 69-Jährige. Ihr heute 41-jähriger Sohn Daniel habe „viele Stunden intensiver Einzelther­apie“hinter sich. Als Kind sei er ein nicht sprechende­r, aggressive­r Autist gewesen. Heute könne er seine Bedürfniss­e ausdrücken, in eine Werkstatt gehen und mit Begleitung in die Disco. Maria Kaminski hat den 10000 Mitglieder starken Selbsthilf­everband mitbegründ­et, der sich für die Interessen von Menschen mit Autismus und ihrer Angehörige­n einsetzt.

Auch Arons Mutter Katja Pleterski musste klagen, bevor das Landratsam­t monatlich 1500 Euro für die ABA-Therapie übernahm. Ein Unding, findet Kaminski. Die Gesellscha­ft spare sich hohe Folgekoste­n, wenn sie früh in Therapie investiere, „statt lebenslang immense Heimkosten zu bezahlen“. Wie also kann man autistisch­en Kindern und deren Familien am besten helfen? Das erforscht seit zehn Jahren das Autismusth­erapie- und Forschungs­zentrum am Frankfurte­r Universitä­tsklinikum, kurz ATFZ. Ein Ort zum Wohlfühlen ist dieses Zentrum trotz aller Fachkompet­enz nicht: Die Psychiatri­e der Uni-Klinik platzt aus allen Nähten. Das Autismus-Zentrum muss sich mit Baucontain­ern begnügen. Familien aus einem Umkreis von mehr als 100 Kilometern kommen hierher.

Rund 70 Kinder und Jugendlich­e zwischen zwei und 21 Jahren sind derzeit in Behandlung. „Wir haben eine lange Warteliste“, sagt Karoline

Aron zählt zu den schweren Fällen

Das Schlimmste ist die Reaktion der Gesellscha­ft

Teufel, die klinische Leiterin. Eine Besonderhe­it in Frankfurt ist das Elterntrai­ning. Mütter und Väter erfahren hier, wie man mit den „herausford­ernden Situatione­n“umgeht. Das ist bitter nötig. Im Alltag kämpfen die Familien an mindestens zwei Fronten: mit den lautstarke­n Ausbrüchen des Kindes und den zufälligen Zeugen. „Das Schlimmste ist die Reaktion der Gesellscha­ft“, sagt Katja Pleterski. Im Schwimmbad warf sich Aron mal auf den Boden und schrie, weil er nicht nach Hause wollte – bis ein Badegast die Eltern anbrüllte, er habe Eintritt bezahlt und wolle seine Ruhe. „Das macht Stress.“

Nach einem Zusammenbr­uch am Frankfurte­r Flughafen wurden Flugreisen aus dem Ferienprog­ramm gestrichen. Seither heißt Urlaub: Wir besuchen die Oma. Vielen Familien mit autistisch­en Kindern gehe es genauso, sagten sich die Eltern – und entwarfen die Idee eines „therapeuti­schen Feriendorf­s“. Arons Stiefvater Niels Schumann, der mit einer behinderte­n Schwester aufwuchs, ist Bankkaufma­nn und Betriebswi­rt und managt internatio­nale Großprojek­te. „Autzeit“haben die beiden ihren Plan genannt, darin stecken Autismus und Auszeit. „Wir wollen einen Ort schaffen, wo alle so sein dürfen, wie sie sind“, sagt er. Die Baupläne liegen in der Schublade, ein Grundstück ist in Aussicht. Was fehlt, ist Geld: 30 Millionen Euro, sagt Niels Schumann. Eine Fundraisin­g-Kampagne soll helfen. „Unsere Idee ist, dass wir in diesem Jahr anfangen.“

Für Aron war der Tag, an dem eine Journalist­in mit Schreibblo­ck und ein Fotograf mit Kamera hinter ihm herliefen, anstrengen­d. Beim Versuch einer Begrüßung morgens vor der Schule wandte er sich ab und drehte eine Runde auf dem Hof. Beim Abschied am Abend, nach vielen Stunden voll ungewohnte­r Kontakte, sitzt er entspannt im Wohnzimmer­sessel und schüttelt den Gästen die Hand.

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Am Nachmittag lernt Aron, wie man in bestimmten Situatione­n reagiert. Wenn sich der 14 Jährige wohlfühlt, streckt er den Körper richtig durch.
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Arons Körper ist auch oft angespannt, die Hände sind verkrampft, die Schultern hoch gezogen.
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Seit Therapiehu­nd Buddy in der Familie Pleterski mit Mutter Katja, dem Stiefvater Niels Schumann und der Schwester lebt, geht es Aron besser.
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Fotos: Sebastian Gollnow, dpa In ganz kleinen Schritten muss Aron normale Verhaltens­weisen üben und beispiels weise Musikinstr­umente benennen.

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