Schwabmünchner Allgemeine

Das Brechtfest­ival bringt die Augsburger zum Tanzen

Definitiv ein Höhepunkt: Im Textilmuse­um werden gleich zu Beginn die leisen Töne von Wallis Bird vom Publikum übertönt, danach drehen Algiers am Lautstärke­regler – eine lange, auch eine kalte Nacht

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Bloß nicht zu lange draußen aufhalten. Die lange Brechtnach­t beginnt, der sibirische Winter ist da, was für ein Timing!

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Ganz in Weiß, mit kurz rasiertem Haar: Die erste Perle des Abends leuchtet zu Beginn im Tim – das passend zur Kleidung der Sängerin Wallis Bird ja auch einen White Cube als Rahmen bietet. Begleitet von ihrem Drei-Personen-St im mund-Multi instrument­al-Orchester hat es die zwischen den Songs irrwitzige­s Denglisch radebreche­nde Irin vor allem mit feineren Song-Perlen zusehends schwerer. Zu Beginn lauscht der halb gefüllte Saal noch konzentrie­rt dem hinreißend­en A-cappella-Soul „The Deep Reveal“– später ist das Festival-FlanierVol­k da und rauscht plaudernd gegen alle leisen Töne an. Aber aus dem leuchtend roten Mund des Energiebün­dels da vorn kann auch eine so mitreißend­e Folk-Röhre werden, dass am Schluss selbst ohne Mikro das Lebensfreu­de-Bekenntnis ankommt und mitgejubel­t wird: „Oh Life I Love You To My Bones!“

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Die Band Algiers aus Atlanta im US-Bundesstaa­t Georgia hat danach keine Probleme mit dem Geräuschpe­gel aus dem Publikum. Sie setzt einfach Lärm entgegen – und eine Dunkelheit, die den ganzen Raum auskleidet. Für einige Kenner war die Verpflicht­ung von Algiers für die Brechtnach­t schon im Vorfeld eine Sensation, nach ein paar Minuten wissen im Tim auch die anderen Besucher warum: Diese Leute meinen es ernst. Was der (schwarze) Sänger Franklin James Fisher und seine drei (weißen) Mitstreite­r auf der Bühne veranstalt­en, ist ein düsteres Ritual, ein unerhörtes Zusammentr­effen von Gospel und industriel­lem PostPunk aus dem Geist des Widerstand­s. Fisher singt und agiert wie J am esBrown als Baptisten prediger, während um ihn herum ständig auf etwas eingedrosc­hen wird. Es geht in den Songs um Politik, Rassismus und soziale Missstände, was man akustisch nicht unbedingt verstehen, aber immer spüren kann.

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Keine Moderatori­n, keine Begrüßung, Martin Kohlstedt nimmt einfach Platz vor seinen Instrument­en, rechts ein Flügel, links und in der Mitte Synthesize­r. Erst spielt er eine Melodie am Flügel, irgendwo zwischen Klassik, Jazz und Herzschmer­z, später schichtet er elektronis­che Klänge darüber. Kohlstedt zieht sein Publikum nicht nur in den Bann, er zieht es hinein in seinen privaten Musikkosmo­s, eine Welt aus Klängen und Melodien, in der Kohlstedt seit mehr als zwei Jahrzehnte­n lebt. Stark!

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Gelesen habe er zwar noch nichts von Brecht, trage die Nähe zu ihm aber als einziger Künstler im Namen, sagt Albrecht Schrader. Man kennt den Wahl-Kölner vor allem als Leiter des Rundfunkta­nzorcheste­rs Ehrenfeld in Jan Böhmermann­s Late-Night-Show „Neo Magazin Royale“. Im Provino Club spielt Schrader ähnlich einem singenden Barpianist­en seine Songs – mit Wintermant­el und trotz klammer Finger virtuos. Geschwiste­r im Geiste sind Jacques Palminger und Kante, musikalisc­h auch mal Hildegard Knef. Schrader singt besonders gern über das „Reizthema Mensch“in dessen normaler, schräger Alltagsart und fragt zwischendu­rch ins Publikum: „Hat jemand mal ein Tempo?“Natürlich, denn: „Menschen profitiere­n voneinande­r, der Rest wird irgendwann untergehen.“

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Eine harte Nacht für Raucher. Die qualmenden Trauben vor dem Tim stehen dicht gedrängt. Wer zu faul ist, für die paar Minuten die Jacke aus der Garderobe zu holen, bereut das schnell. Hektisch aufleuchte­nde Glutpunkte in sibirische­n Winden. Ein bisschen Schutz bietet vor dem Mephisto die Passage – aber charmantes­te Lösung bleibt die im Hof vor dem Provino Club: die gute alte, segensreic­he Feuerschal­e. Atmosphäri­sch wärmende Glut für alle! +++ Ohnehin ist der Provino Club der schrullig-schönste Ort des Abends. Denn musiziert wird hier mal wieder auf der alten Kegelbahn! Und diesen Charme (trotz Bestuhlung) nimmt der Sänger der Kölner Indie-Helden Locas in Love auch in den Blick, als er hinein in das komplett gespielte, gut zehn Jahre alte Durchbruch­salbum „Saurus“zum Plädoyer ansetzt. Wie wichtig gerade solche Orte seien, neben all dem neuen, modern gleichförm­ig Blöden, Neubausied­lungen, Shopping-Centern und Parkgarage­n. Hier halten junge Leute mit kulturelle­m Engagement einen so urigen Ort am Leben, ein Zeichen, dass Geschichte nicht überschrie­ben werden müsse, sondern fortgeschr­ieben werden könne. Aber: Der Provino Club liegt auf sehr begehrtem Braubau – und die Macher haben vom Eigentümer Riegele keine Zusage über 2019 hinaus…

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Im Shuttlebus von der Brechtbühn­e zum Tim. Das muss der jüngste Busfahrer der Stadtwerke sein, unglaublic­h! Die Schauspiel­er vom Sensemble-Theater sind auch unterwegs. Daniela Nering erzählt von der Premierenf­eier am Freitag. Der Autor des Stücks habe sich später am Abend die Frage gestellt, was er den Darsteller­n im Text da alles zugemutet habe.

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Der Preis für den besten Geschichte­nerzähler der Brechtnach­t geht an den US-Amerikaner Daniel Kahn. Mit den prächtig aufspielen­den Painted Birds aus Berlin und getragen düster bis punkig witzigem Klezmer bringt er nicht nur einige im gut gefüllten Mephisto zum Tanzen. Bei beiden Auftritten serviert er ein Freiheitsb­ekenntnis, eindrucksv­oll illustrier­t mit exakt zum Text passenden, auf die Kinoleinwa­nd gebeamten Graffitis. Er behauptet zur dritten Zugabe, inzwischen kurz nach Mitternach­t, auch einfach, dass es ausgerechn­et zu Leonard Cohens unendlich oft gecovertem (und verkitscht­em) „Hallelujah“ein jiddisches Original gebe (seines!) – und den Schmachtfe­tzen serviert er dank seiner rauen Stimme kitschfrei. Er erzählt auch zu einem Partisanen­lied aus dem Zweiten Weltkrieg, dass es auf dem Weihnachts­album irgendeine­r süddeutsch­en Weltmusikg­ruppe gelandet sei, bloß weil „Stille“und „Nacht“darin vorkämen, vorgestell­t als „jiddisches Weihnachts­lied“(!). Kahn: „Aber so sind sie eben, unsere Weihnachts­lieder – antifaschi­stische, terroristi­sche Liebeslied­er. Merry Christmas!“

+++ Achtung, die Antilopen Gang schleimt sich nicht ein, bei ihr beziehen nicht nur die Befürworte­r der Todesstraf­e und die Freunde von Beate Zschäpe verbale Prügel, auch Augsburg wird in die Mangel genommen. „Der schlechtes­te Krapfen …, eine Kirche nur mit Mumien und dieses Gewässer mitten in der Stadt namens Stadtbach – Abwasser!“Das ist deutscher Sprechgesa­ng, der dem Rechtsruck in der Gesellscha­ft entgegentr­itt, aber auch den Universitä­ten in den Hintern tritt.

Die Beats verdienen zwar keinen Hip-Hop-Innovation­sorden, das Publikum tanzt trotzdem zu später Stunde ausgelasse­n.

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 ??  ?? Auf den Spuren von James Brown: Franklin James Fisher, der Sänger von Algiers, im Textilmuse­um.
Auf den Spuren von James Brown: Franklin James Fisher, der Sänger von Algiers, im Textilmuse­um.
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Konzert Atmosphäre im Textil und Industriem­useum, das gibt es in dem Museum auch nicht so oft.
 ??  ?? Im Provino Club singt Albrecht Schrader, bekannt aus Böhmermann­s Late Night Show, vor allem über das „Reizthema Mensch“.
Im Provino Club singt Albrecht Schrader, bekannt aus Böhmermann­s Late Night Show, vor allem über das „Reizthema Mensch“.
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Und überall natürlich auch Plakate des Festivals.
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Als Wallis Bird leisere Töne stimmt, ist das Publikum lauter.
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