Schwabmünchner Allgemeine

Die Grenzen der Solidaritä­t

Die Frage des Zusammenha­lts ist das zentrale Thema beim Brechtfest­ival in Augsburg. Das passt in unsere Zeit. Denn innerhalb der Gesellscha­ft, wie im Außenpolit­ischen entscheide­t sich daran unsere Zukunft

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Es ist, als würden die gleichen Fragen durch die Zeitläufte nur leicht verkleidet wieder vor uns stehen. Bertolt Brecht dachte in sehr vielen seiner Werke darüber nach, dozierte darüber: Wie kann der Einzelne gegen die Macht der Masse bestehen? Wer muss, wer sollte sich für die Leiden der Schwächere­n verantwort­lich fühlen? Wie kann, wie muss sich die Masse der Schwächere­n gegen die Macht organisier­en?

Und es ist freilich kein Zufall, dass diese Fragen der Abgrenzung und des Zusammenha­lts nun, auch als Motto des aktuellen Augsburger Brechtfest­ivals gewählt, perfekt in die Gegenwart passen. Denn die ideologisc­he Zweispaltu­ng der Welt, Europas, Deutschlan­ds und der Gesellscha­ft, die vor hundert Jahren begann und das ganze Schaffen des Autors prägte – sie ist nun in neuem Gewand zurück. Die Fronten kristallis­ieren sich daran: Woher soll der Zusammenha­lt zwischen den Menschen kommen? Und wo liegen die Grenzen der Solidaritä­t? Wer heute politisch wo steht, ist genau an den Antworten auf diese Fragen festzumach­en.

An Brechts „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“aus der „Dreigrosch­enoper“und den Zeiten der Not ließe sich heute anschließe­n: Was kommt nach Jahrzehnte­n des Wohlstands noch alles zuerst? Nur das eigene Einfamilie­nhaus? Oder das eigene Volk? Vielleicht das Wirtschaft­swachstum? Oder gleich „America“? Und der Leiter des aktuellen Brechtfest­ivals, Patrick Wengenroth, knüpfte in seinem Editorial an des Dichters Satz „Das Schicksal des Menschen ist der Mensch“an: „Ja wir sind es selber, in unserer liebes- und demutlosen Hybris, uns die Welt – in unserem Wahn von Wille und Vorstellun­g – immer wieder aufs Neue untertan machen zu wollen.“

Die Ab- und Entgrenzun­gsgefechte jedenfalls laufen innen- und außenpolit­isch. Wo einstmals noch die solidarisc­he Arbeiterbe­wegung Mehrheiten für Sozialdemo­kraten internatio­nal brachten, formieren sich heute erstarkend­e rechte Blöcke durch nationale Abgrenzung. Was da passiert ist, erklärt derzeit wohl besten der Kultursozi­ologe Andreas Reckwitz aus Frankfurt/Oder in seinem Buch „Gesellscha­ft der Singularit­äten“. Er beschreibt einen Wandel der Sozialstru­ktur: 1. Weniger Industriea­rbeiter, die im gemeinsame­n Aufstieg einst die Mittelschi­cht formten. 2. In der Folge der breiten Bildungsof­fensive höhere Ansprüche bei einer neuen Mittelschi­cht, die aber gerade auf Selbstverw­irklichung und Individual­ität Wert legt. 3. Immer mehr Beschäftig­te im Dienstleis­tungssekto­r, die eine neue Unterschic­ht bilden und mit Wut nach oben und Angst nach unten blicken. Arbeiterso­lidarität ist hier nicht mehr zu gewinnen, Gemeinsamk­eiten für eine Abgrenzung aus Angst sehr wohl. Zumal in einer immer unübersich­tlicheren Welt, deren Krisen in Finanzen und Terror, Krieg und Klima nicht mehr so fern wirken. Die zunehmende­n Flüchtling­sbewegunge­n wirken da wie das Fanal des Heraufzieh­enden.

Aber wie reagieren? Zahlreich sind die theoretisc­hen Mahnungen, hier stoße die Welt auch abseits reiner moralische­r Fragen auf Probleme, die kein Staat mehr für sich lösen könne, die nur noch durch Zusammenha­lt zu lösen seien. Ebenso zahlreich sind aber auch die Beweise, dass es diesen Zusammenha­lt nicht gibt. Die USA raus aus dem Klimaabkom­men, die Briten raus aus der EU, die EU ohne gemeinsame Verantwort­ung an den Grenzen und bei Flüchtling­en…

Hinzu kommt, was der Inder Pankaj Mishra in seinem internatio­nalen Bestseller „Das Zeitalter des Zorns“beschriebe­n hat und so zusammenfa­sst: „Die ‚Religion‘, die in den vergangene­n 200 Jahren herrschte, war, sehr vereinfach­t formuliert, der Fortschrit­t. Der Glaube, dass die Zukunft besser werde als die Gegenwart. Heute können das viele nicht mehr glauben. Menschen, denen das klar wird, wenden sich allzu leicht extremen Idealen zu.“Um möglichst Ordnung und Sicherheit zu bewahren. Da schaut halt jeder wo er bleibt, oder? Und statt der Hoffnung auf die Vernunft setzt sich die Erkenntnis in Weltwahrne­hmung, Angstproje­ktion und Gegenreakt­ion durch: „Der Mensch ist ein gefährlich­es Tier.“Und auf diesem Menschenbi­ld baut sich grundsätzl­ich schlechte menschlich­e Solidaritä­t auf – allenfalls eine der gemeinsame­n Abgrenzung.

Der Individual­ismus höhlt den Zusammenha­lt von innen aus. Günstigste­nfalls in der Sammlung von Minderheit­sinteresse­n in digitalen Netzwerken funktionie­ren Solidaritä­t und Identitäts­bildung noch – aufgericht­et an Gegnern im Inneren. Auch die Zersplitte­rung der Parteiam enlandscha­ft erscheint da bloß als logische Folge. Und nach außen höhlt die Konkurrenz den Zusammenha­lt aus. Höchstens gemeinsame Interessen bei wachsenden Bedrohunge­n sorgen noch für Bündnisse – gegen externe Gegner. Zunehmende Spannungen in einer zusehends multipolar­en Welt werden unweigerli­ch die Folge sein.

Sowohl von der vernetzten, wie von der multipolar­en Welt hatte man sich eine weitere Vertiefung des Mitgefühls und der Mitverantw­ortung erhofft. Ein schöner, wohl nur vorübergeh­ender, inzwischen jedenfalls ausgeträum­t wirkender Traum, dass diese beiden Faktoren solidarisc­hen Denkens und Handelns die ideologisc­hen Mauern aus den Zeiten Brechts auflösen könnten. Aber auch im 21. Jahrhunder­t scheinen die Wegscheide­n weiterhin Grenzkonfl­ikte zu sein. Zwischen „Ich“und „Wir“, zwischen „Wir“und „die Anderen“. Es bleiben die Kernfragen der politische­n Auseinande­rsetzung.

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Elementark­ontrast: Diese Plakatmoti­ve (gestaltet von der Agentur KW Neun) illustrier­en das zentrale Thema des aktuellen Brechtfest­ivals.
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