Schwabmünchner Allgemeine

Wenn Gregor Gysi auf die Kanzel steigt

Wie der linke Politiker die Alternativ­e zum Kapitalism­us sucht. Und in der St. Anna-Kirche Beifall erhält

- VON ALOIS KNOLLER

Für ihn war es eine Premiere: Zum ersten Mal sprach Gregor Gysi, die profiliert­este Figur der Linken, von einer Kanzel. „Ich muss aufpassen, dass ich nicht von oben herab spreche“, mahnte der Berliner Bundestags­abgeordnet­e sich selbst, als er am Sonntag die Theaterpre­digt in der dicht gedrängt besetzten Anna-Kirche hielt. Fromm wird Gysi nicht, ein Bekenntnis jedoch legt er auf der Kanzel ab. Eine soziale, gerechte Gesellscha­ft jenseits des Kapitalism­us schwebt ihm vor, aber freilich keine, die die alten kommunisti­schen Systemfehl­er Lenins, Stalins und Ulbrichts wiederholt.

Sein Kronzeuge dafür heißt Bert Brecht, allerdings der dialektisc­he Theaterman­n, der den Marxismus auch gegen den Strich bürstet und auf der Bühne zur Diskussion stellt. So wie im Stück „Die Maßnahme“ – jüngst in Augsburg inszeniert – in „Der Untergang des Egoisten Fatzer“. Dieser und sein Gegenspiel­er Koch stünden für bestimmte Typen, die übrigens beide untergehen. „Fatzer ist ein Revolution­är von beachtlich­er Inkonseque­nz und seine Schwäche lässt Koch-Typen großwerden“, erklärt Gysi. Fatzer folgt seinen individuel­len Bedürfniss­en und drückt sich als Revolution­är aus. Koch wiederum ist der Radikale, weshalb ihn der Dramatiker Heiner Müller in seiner Berliner Inszenieru­ng mit dem RAFTerrori­sten Andreas Baader gleichgese­tzt habe. Er möchte die Massen mobilisier­en, indem er den Staat zu äußerster Gegenwehr reizt – und wenn Unbeteilig­te dabei zu Opfern werden. „Der Fehler, den beide begehen, ist, sich von den Massen zu entfernen“, folgert Gysi. „Brecht fehlten im Fatzer-Fragment aber noch die dramaturgi­schen eine mögliche Haltung vorzuführe­n und zu diskutiere­n.“Diese standen dem Dichter dann in seinem epischen Theater zur Verfügung, dessen Hauptzweck die gesellscha­ftliche Selbstvers­tändigung war. Daoder ran würde der linke Politiker Gysi gern anknüpfen. Auf der Kanzel benennt er einige Widersprüc­he der momentanen Weltverfas­sung – mit Lob und Tadel des Kapitalism­us: Der könne eine sehr effiziente WirtMittel, schaft hervorbrin­gen, eine Spitzenfor­schung und eine Top-Kultur. Aber, wendet Gysi ein, er kann auch einiges nicht. Nicht den Frieden sichern, weil an Kriegen zu viel verdient wird. Keine soziale Gerechtigk­eit herstellen, weil er immer die Tendenz hat, die Reichen zu bevorzugen. Der Kapitalism­us habe große Schwierigk­eit mit der ökologisch­en Nachhaltig­keit, sobald etwas nicht mehr verkauft werden darf. Schließlic­h: „Kapitalism­us kann demokratis­ch sein, muss es aber nicht.“

Aus all dem destillier­t Gysi die Frage: „Wie komme ich zu einer Gesellscha­ft, die alles übernimmt, was der Kapitalism­us dem Kommunismu­s voraushat, und all das überwindet, was dieser nicht kann?“Die Antwort bleibt er schuldig: „Den Vortrag halte ich Ihnen im nächsten Jahr.“Stadtdekan­in Susanne Kasch, die Hausherrin in St. Anna, ist schon gespannt darauf. Hunderte applaudier­ende Zuhörer offenbar auch.

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Foto: Fred Schöllhorn Brechend voll war die evangelisc­he St. Anna Kirche zur Theaterpre­digt des Bundestags­abgeordnet­en Gregor Gysi. Der Berliner sprach über Brecht – und kritisiert­e den Kapitalism­us.
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