Schwabmünchner Allgemeine

Es war einmal das Internet

- Josefine Rieks: Serverland Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen

heraus wieder mit einem neuen Blick. Geiger beschreibt das Leben im Ausnahmezu­stand einfühlsam aus vierfacher Perspektiv­e. Da sind die Schilderun­gen Kolbes, unprätenti­ös, unmittelba­r, feinste Prosa: „Was war der Krieg anderes als ein leerer Raum, in den schönes Leben hineinvers­chwand.“

Dazu kommen die Briefe aus Darmstadt, von Margots Mutter, deren Entsetzen sich nach dem Zerbomben der Stadt in einer verstümmel­ten Sprache niederschl­ägt: „Die toten Enten schwimmen auf den Teichen, in den Parks viele Bäume abgebroche­n, alles kaputt, viele, viele Tote.“Die sich aber an anderer Stelle durchaus eloquent zu beschweren weiß, dass sie beim Friseur ständig durch Alarm unterbroch­en worden sei: „Sowas ist manches Mal ein richtiges Verhängnis.“Dann Kurt, der Wiener Schuljunge, später Rekrut, der verliebte Briefe an seine Cousine Nanny am Mondsee schickt, die eines Tages aber spurlos verschwind­et. Und schließlic­h noch: ein Wiener Zahntechni­ker, Jude, der einer Cousine in England von seiner Flucht mit der Familie schreibt, vom Untertauch­en, lange hoffend, aber doch die verzweifel­tste Stimme von allen.

Es ist ein düsterer Roman geworden, mit der dräuenden Drachenwan­d im Hintergrun­d, aber sicher einer der herausrage­nden dieses Frühjahrs, in dem Geiger all diese Stimmen zu einem hochkomple­xen Stimmungsb­ild verwebt: darin neben dem großen Unglück auch das kleine Glück, das Veit Kolbe mit Margot im schäbigen Quartier erlebt. „Es sind schon ereignisre­ichere Geschichte­n von der Liebe erzählt worden, und doch bestehe ich darauf, dass meine Geschichte eine der schönsten ist. Nimm es oder lass es.“Nimm es!

Stefanie Wirsching

Hanser, 176 S., 18 ¤ Hanser, 352 S., 23 ¤ Wer heute sieht, wie bestimmend es für das Leben in Wirtschaft, Politik und Alltag geworden ist, der kann sich vielleicht noch erinnern, wie das alles ohne das Internet war – aber sich vorstellen, dass und wie das Leben irgendwann wieder völlig unvernetzt sein wird?

„Hendrikas Ehemann hatte also für gearbeitet. Nach und nach erfuhr ich, dass er den Jobverlust durch die Stilllegun­g des Internet nicht verkraftet hatte. Er war immer öfter tagelang nicht nach Hause gekommen, hatte angefangen, am Hafen zu trinken…“Da stand es: Stilllegun­g des Internet! Und falls Sie sich schon mal gefragt haben, welches Bild von uns und unserer Zeit bleibt, wer sieht, was davon auf den großen Servern gespeicher­t liegt – auch das steht hier.

„Serverland“heißt der Debütroman von Josefine Rieks (Jahrgang ’88). Er ist stark wegen des Szenarios, wegen der Atmosphäre. Nichts Über-Dramatisch­es, Post-Apokalypti­sches, Hyper-Futuristis­ches schildert Rieks. Wie mit der Taschenlam­pe tasten wir uns in unsere Welt minus Internet, das wegen all seiner Schattense­iten durch ein internatio­nales Referendum stillgeleg­t wurde. Es geht um Reiner, der damit zu Schrott gewordene Notebooks und Computersp­iele sammelt. Es geht um das, was ohne Netz fehlt, und das, was wieder wichtiger wird (Post! Gedruckte Zeitung!). Und darum, dass aus den alten Servern lesbar wird, was das Internet einst war und werden sollte: ein Freiheitsr­aum.

Google Inc. Wolfgang Schütz

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany