Ein Chronist und eine moralische Instanz
Zum Dissidenten im Kommunismus wurde György Konrad, weil er das Leben in der Lüge nicht ertrug
„In jener Zeit, in den Jahren der Diktatur, sind wir Abend für Abend emigriert, indem wir lasen“, schreibt der ungarische Schriftsteller György Konrad in seinen Roman-Memoiren. „Anstelle der falschen Rede, die in die Wohnung eindrang, transferierte mich die wahre Rede in eine andere Welt. Ein gutes Buch in meiner Tasche war ein Quell des Genusses, so wie für den Halbwüchsigen die Konditorei oder das Bordell einer war.“
Konrad, der am 2. April 85 Jahre alt wird, überlebte als Kind den Holocaust, dem fast alle Juden aus seinem Geburtsort Berettyoujfalu in Ostungarn zum Opfer fielen. Bis zu seinem 56. Lebensjahr lebte er unter dem kommunistischen Regime. Er zählte zu dessen prominentesten Dissidenten. „Die Macht hat mich von Anfang an abgestoßen“, sagte er der Wochenzeitung
„Wer einmal die Macht errungen hat, setzt mit allerlei Tricks alles daran, sie zu behalten.“
Als Soziologe arbeitete er in Budapest in der Jugendfürsorge und für die Stadtverwaltung. Sein Romandebüt „Der Besucher“veröffentlichte er 1969. Der schonungslose Blick auf die offiziell verleugneten Zonen des Elends brachte ihn in Opposition zum Regime. Die mit Ivan Szelenyi verfasste systemkritische
Heti Vilaggazdasag.
soziologische Analyse „Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht“konnte nur im Untergrund erscheinen. Konrad handelte sich damit in Ungarn ein Veröffentlichungs- und Reiseverbot ein, konnte aber bald im Westen publizieren.
Konrads Romane und essayhafte Erzählungen – es folgten „Geisterfest“(1986), „Melinda und Dragoman“(1991), „Glück“(2003), „Sonnenfinsternis auf dem Berg“(2005), „Das Buch Kalligaro“(2007) und „Gästebuch – Nachsinnen über die Freiheit“(2016) – sind große Erinnerungsliteratur, Sittenbilder von den gesellschaftlichen und moralischen Zuständen im ungarischen Gulasch-Kommunismus und der darauffolgenden Transformationszeit. Im Spätwerk überwiegt der abgeklärte Ton eines distanzierten Räsoneurs.
Aus seiner Citoyen-Rolle ist Konrad nie geschlüpft. Mit Elan setzte er sich für die europäische Einigung ein. Von 1997 bis 2003 war er Präsident der Berliner Akademie der Künste, 2001 erhielt er den Aachener Karlspreis. Der Parade-Intellektuelle aus Ungarn wurde zur gesamteuropäischen Instanz. Immer wieder erhebt er seine Stimme, wenn er die Menschenrechte und Grundfreiheiten gefährdet sieht. Im eigenen Land, in dem Viktor Orban seit 2010 mit autoritären Methoden und populistischer Rhetorik regiert, können seine Einwürfe mit den Entwicklungen kaum mehr Schritt halten.