Ein Land zwischen Gewohnheit und Fortschritt
Unsere Autorin erlebt, wie die Kolumbianer heute immer noch unter ihrer Vergangenheit leiden / Serie (5)
Einen Freiwilligendienst in Kolumbien? Ist das nicht zu gefährlich? Hast du keine Angst? Kannst du da überhaupt alleine auf die Straße gehen? Dies sind nur einige Fragen, mit denen mich Freunde vor meiner Reise von Gersthofen nach Kolumbien konfrontiert haben. Aber wie ernst ist die Situation dort wirklich?
Als Tourist bekommt man auf Reisen nur einen kleinen Eindruck von einem Land. Man besucht nur kurz den fremden Staat. Das Ziel ist, möglichst viel zu sehen. Das Alltagsleben bekommen die meisten nur am Rande mit. Lebt man jedoch für einige Zeit im Ausland, lernt man dieses auf eine ganz andere Weise kennen. Der tägliche Kontakt mit Leuten, Essen, Kultur und Geschichte kann nicht nur aufregend neu sein, sondern auch schockierend.
Kolumbien hat eine traurige Vergangenheit. Besonders in den 1990er-Jahren hat das Land unter der Macht des „Drogenkönigs“Pablo Escobar gelitten. Bombenanschläge, Schießereien mitten auf der Straße und Raubüberfälle waren alltäglich. „Man verließ morgens das Haus mit der Ungewissheit, ob man am Abend wieder zurückkommen würde“, erzählte mir einmal meine Gastgroßmutter.
Die Bürger litten unter der Kriminalität und waren machtlos. Medellin, die Hochburg des kolumbianischen Drogenhandels, ist berühmt für die sogenannte „Comuna 13 San Javier“, einen sehr armen Bezirk, in den sich nicht einmal die Polizei hineintraute. Bis heute haben die Häuser dort Hinterausgänge, Bunker und Verstecke. Inzwischen haben die Bewohner eine Art gefunden, ihren Schmerz über den Terror und die Morde sichtbar auszudrücken. Graffiti schmücken die Hauswände und Mauern. Gesichter, Tiere oder Kinder – die Motive sind unterschiedlich, doch hinter allen steht die Botschaft: Wir vergessen nicht, was passiert ist! Das ganze Land war über viele Jahre hinweg in einen Bürgerkrieg zwischen Sicherheitskräften, rechten Paramilitärs und linken Fac-Guerillas verwickelt. Es herrschten Furcht und Gewalt unter dem Volk sowie Korruption und Machtspiele in der Regierung.
Heute ist das Land nicht mehr so gefährlich wie in den 1990ern, und Dinge verbessern sich täglich. Doch trotz der Weiterentwicklung leidet Kolumbien immer noch. Die Guerillas sind heute noch mächtig, haben inzwischen einen Sitz im Kongress und sind besonders im Amazonasgebiet angesiedelt. Viel schlimmer ist jedoch, dass die Bürger kein Vertrauen mehr in die Regierung haben. Korruption ist das größte Problem, dem sich Kolumbien in diesen Zeiten stellen muss.
Besonders fassungslos macht mich, wie einfach es ist, die exekutive Gewalt zu bestechen. Die Polizei ist in Deutschland nicht nur Freund und Helfer, sondern auch ein Staatsorgan, welches man respektiert. So ist es für mich noch schockierender, wie wenig Achtung die Menschen hier vor den Polizisten haben.
Ein persönliches Erlebnis als Beispiel: Als ich abends einmal mit zwei Freiwilligen und Kolumbianern mit dem Auto unterwegs war, hielt uns die Polizei an. Sie meinten, wir wären zu schnell gewesen und müssten Strafe zahlen. Als sie allerdings uns auf der Rückbank sahen, mussten wir aussteigen. In diesen Momenten ist man sofort nervös, eine Polizeikontrolle in fremden Ländern ist nie etwas Angenehmes. Doch die Beamten fragten uns nicht nach Ausweis oder Papieren, sondern ob wir einen Freund hätten und wie sie uns bei Facebook finden könnten. Wir schenkten ihnen Arepas, das sind kolumbianische Maisfladen, und wünschten ihnen noch einen schönen Abend. Damit war die Geldstrafe sofort vergessen.
Diese Erlebnisse wären in Deutschland undenkbar. In Kolumbien beginnen sie sich irgendwann zu häufen, und sobald man sich daran gewöhnt hat, entsteht automatisch ein Misstrauen gegenüber dem Staat. Trotzdem ist der Großteil der Bevölkerung nach meiner Einschätzung froh, dass der Straßenkrieg endlich vorbei ist.