Der Schuh der Primaballerina
Charlie Chaplin hat als Tramp im Film „Goldrausch“den weltweit bewunderten Versuch unternommen, einen alten Schuh elegant mit Messer und Gabel zu verspeisen. Diese berühmte Szene einer SchuhVerköstigung ist nicht die erste ihrer Art. Ein knappes Jahrhundert vor Chaplin sollen russische Enthusiasten ein Paar Ballettschuhe öffentlich verzehrt haben.
Sie verzehrten sich eigentlich nach der Trägerin der Schuhe, der großen Ballerina Marie Taglioni. Ersatzweise erwarben sie für 200 Rubel ihre Ballettschuhe, kochten sie, gaben Sauce hinzu und ließen sie sich schmecken.
Diese Ess-Geschichte ist nicht gerichtsfest verbürgt. Doch sie erzählt in kräftiger Bildsprache vom internationalen Ruhm einer frühen, wegweisenden Primaballerina des klassischen Balletts. Marie Taglioni war die Erste, die den Spitzentanz nicht mehr als bloße akrobatische Einzelnummer präsentierte, sondern als kunstvoll fließende Abfolge dahingleitender, schwebender Bewegungen.
Diese besondere europäische Kunstform erreichte einen Höhepunkt, als Marie Taglioni vor einem begeisterten Pariser Publikum „La Sylphide“tanzte.
Das Ballett hatte ihr Vater für sie in Szene gesetzt. Vater Taglioni, ein Italiener in Stockholm, verheiratet mit einer schwedischen
Tänzerin, war Choreograf und strenger Lehrmeister seiner begabten Tochter Marie. Die Familie zog vom hohen Norden nach Wien, und hier verbrachte Marie Taglioni lange, harte Lehr- und Trainingsjahre. Begabt war sie, aber sie hatte, so heißt es, Haltungsprobleme, die sie mit unermüdlicher Arbeit an der Stange korrigierte. Vielleicht war es gerade das anfängliche Handicap, das Marie so stark machte, dass sie zum Weltstar des scheinbar schwerelosen Spitzentanzes aufstieg.
Man feierte sie in London, Paris, Wien und seit 1838 in St. Petersburg. Die Russen lagen ihr zu Füßen und einige huldigten kulinarisch den Schuhen, in denen ihr Idol über die Bühne glitt. Mit Marie Taglioni begann die Zeit der großen klassischen Tänzerinnen. Sie beherrschten die Bühne. Den Männern blieb die Rolle, ihre gefeierten Partnerinnen kraftvoll und sicher zu heben.
Bis vor rund hundert Jahren Vaslav Nijinski mit seinen schwerelos schwebenden Sprüngen den Mann als Star auf die Ballett-Bühne zurückbrachte. Aber keiner hat, soweit man weiß, seine Schuhe verspeist.