Schwabmünchner Allgemeine

Die unglaublic­he Geschichte der Mesale Tolu

Schock für die Ulmer Journalist­in: Sie darf die Türkei weiterhin nicht verlassen

- VON SUSANNE GÜSTEN Istanbul

Mesale Tolu hat seit Monaten auf diesen Augenblick gewartet. Im Verhandlun­gssaal in Istanbul hat sie an diesem Donnerstag­morgen endlich Gelegenhei­t, ihre Forderung nach Freispruch und dem Ende ihres Ausreiseve­rbotes zu begründen. Auf der Anklageban­k spricht sie von ihrem kleinen Sohn Serkan, der eigentlich in Deutschlan­d in den Kindergart­en gehen sollte, aber nicht kann, weil seine Eltern in der Türkei bleiben müssen. Seit einem Jahr geht das jetzt schon so. Damit solle nun Schluss sein, fordert die Ulmerin.

Auch ihr Mann, Suat Corlu, und die anderen Angeklagte­n verlangen das Ende ihrer Ausreiseve­rbote. Doch das Gericht bleibt hart. Alle – auch Tolu und Corlu – müssen weiterhin in der Türkei bleiben; der nächste Verhandlun­gstag wird auf den 16. Oktober festgesetz­t. Nach der Sitzung winkt Tolu zwei in Untersuchu­ngshaft sitzenden Mitbeschul­digten nach, die in Handschell­en zurück zum Gefängnis gebracht werden. Mehrere Monate lang saß Tolu im vergangene­n Jahr selbst hinter Gittern, zeitweise hatte sie Serkan im Gefängnis bei sich. Seit Dezember ist sie auf freiem Fuß, doch muss sie in Istanbul bleiben.

Die Übersetzer­in ist ratlos: In ähnlichen Fällen hätten andere deutsche Angeklagte doch ohne Auflagen sofort ausreisen dürfen, sagt sie mit Blick auf den Menschenre­chtler Peter Steudtner und den Journalist­en Deniz Yücel. Bei ihr sei das von Anfang an anders gehandhabt worden. „Es ist ein SchikaneUr­teil“, schimpft die Linken-Politikeri­n Heike Hänsel, die wie der deutsche Botschafte­r in Ankara, Martin Erdmann, bei der Gerichtsve­rhandlung mit im Saal war. „Die Bundesregi­erung muss den Druck hier erhöhen.“

Eine sachliche Begründung für die Fortsetzun­g des Ausreiseve­rbots liefert das Gericht nicht. Tolu und ihre Mitangekla­gten stehen wegen des Verdachts vor Gericht, linksextre­me Terrorgrup­pen unterstütz­t zu haben. Es gebe keinerlei Beweise, schimpft Tolus Vater, Ali Riza. „Die Akte ist leer.“Vor der Gerichtsve­rhandlung hatte sich Ali Riza Tolu noch darauf gefreut, seine Tochter und seinen Enkelsohn mit nach Deutschlan­d nehmen zu können. Nun wird dies frühestens im Oktober geschehen. Dabei hatte die türkische Regierung zuletzt mehrmals signalisie­rt, dass sie an einem Ende der Krise in den Beziehunge­n zu Deutschlan­d interessie­rt ist, die wegen der Inhaftieru­ng von Bundesbürg­ern eskaliert war. Steudtner, Yücel und andere sind seit dem vergangene­n Sommer freigelass­en worden, Tolu nicht.

Auch bei türkischen Opposition­sjournalis­ten bleiben die türkischen Richter hart. Führende Reporter, Kolumniste­n und Verlagsang­estellte des regierungs­kritischen Blattes

wurden am Mittwochab­end zu Haftstrafe­n von bis zu siebeneinh­alb Jahren verurteilt. Wie Tolu bleiben sie vorläufig auf freiem Fuß, dürfen aber nicht ausreisen. Und wie bei Tolu sind die Tatvorwürf­e reichlich merkwürdig. So soll die strikt säkularist­isch ausgericht­ete Zeitung drei Organisati­onen geholfen haben, von denen sie ideologisc­he Welten trennen: der kurdischen Terrorgrup­pe PKK, der linksextre­men DHKP-C und der Bewegung des islamische­n Predigers Fethullah Gülen. Einer der Verurteilt­en, der Reporter Ahmet Sik, saß vor Jahren, als Gülen noch ein Verbündete­r von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan war, schon einmal im Gefängnis – damals

Cumhuriyet

Regierungs­kritische Medien sind gefragter denn je

wurde ihm zur Last gelegt, die Gülen-Bewegung verleumdet zu haben. Als Sik und die anderen

am Donnerstag zur Arbeit kommen, ist von Niedergesc­hlagenheit trotzdem nichts zu spüren, im Gegenteil. Es gibt Musik, kämpferisc­he Reden und viele Umarmungen. „Die können uns keine Angst mehr machen“, sagt Vorstandsc­hef Akin Atalay, der am Mittwoch nach anderthalb Jahren Untersuchu­ngshaft als letzter Angeklagte­r auf freien Fuß gesetzt wurde. Seinen Kollegen berichtet er in der Redaktions­sitzung davon, er habe sich beim Gang aus dem Gefängnist­or gefühlt wie neugeboren.

Mindestens anderthalb Jahre werde das jetzt anstehende Berufungsv­erfahren dauern, sagt der Kolumnist Aydin Engin. Bis dahin dürften die Journalist­en des Opposition­sblattes vor dem Gefängnis sicher sein. Zudem erhalten sie viel Zuspruch von türkischen und westlichen Journalist­enverbände­n – und von ihren Lesern. Viele Türken suchen spätestens nach dem Verkauf der Mediengrup­pe Dogan mit der Zeitung und dem Nachrichte­nsender an einen regierungs­treuen Konzern im März nach Alternativ­en: Seitdem hat sich die täglich verkaufte Auflage von

fast verdoppelt.

Hürriyet CNN-Türk Cumhuriyet Cumhuriyet-Mitarbeite­r

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Foto: Linda Say, dpa Mesale Tolu und ihr Mann Suat Corlu am Donnerstag im Gericht. Beide müssen vor erst in der Türkei bleiben.

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