Friedensheim
Erstens hatte Petrow viel zu doll auf den Mantel gespuckt, Kufalt hatte das Gefühl, alle Leute lachten. So hing er den Mantel über den Arm, die Placken verwischten sich nun zwar, aber das galt nicht: er kam doch nicht wieder rein!
Zweitens hatte er vom Zug auf die Stadt zurückgeschaut, da sah er plötzlich zwischen den Häusern noch einmal die grauen, steilen Zementwände mit ihren vielen Gitterlöchern – auch das galt nicht, denn jetzt fuhr er dem Bunker fort: er kam doch nicht wieder rein!
Wenn er es aber recht überdachte, jetzt im Zug, so hatte er doch schon verschiedenes ganz verkehrt gemacht. Einmal hatte er sich eine Autodroschke genommen zum Bahnhof, weil ihn die Leute so ansahen, er konnte es nicht vertragen, daß sie ihn so ansahen. Und dann hatte er auf dem Bahnhof zu Mittag gegessen, wo er doch im Kittchen sein Rumfutsch hatte stehenlassen. Und dann zehn Zigaretten zu sechs, die Sorte vom Direktor. Und dann eine Zeitung. Und dann, was das schlimmste war, zum Mittagessen auch noch ein Glas Bier, trotzdem er dem Alkohol abgeschworen hatte. Fünf Mark neunzig völlig überflüssig ausgegeben, die Arbeitsbelohnung für dreiundsechzig Pensums. Dreiundsechzig Tage hatte er dafür stehen müssen und stricken, und im Anfang hatte er zwölf, dreizehn Stunden für ein Pensum gebraucht. In zwei Stunden weg, die Arbeit von dreiundsechzig Tagen, es fing ganz niedlich wieder an!
Eigentlich hatte er sie sich etwas anders gedacht, die Fahrt in die Freiheit. Da ging es nun durch das sommerliche Land, gewiß, es war ganz angenehm anzusehen, aber hatte er Zeit dafür? Er mußte sich Sorgen machen, ebenso Sorgen wie in der Zelle. Und wie es mit dem Heim wurde ...?
„Kann einer von den Herren mir wohl sagen, wo ich in Hamburg aussteigen muß, wenn ich zur Apfelstraße will?“
Stille – schon fürchtete Kufalt, keiner wird antworten, schon wird ihm zweifelhaft, ob er wirklich laut gefragt hat, da läßt der Herr in der Ecke die Zeitung sinken und sagt: „Apfelstraße? Da müssen Sie beim Hauptbahnhof umsteigen. Sie fahren dann noch bis Berliner Tor weiter.“
„Erlauben Sie mal“, widerspricht der Herr neben Kufalt, „das stimmt doch nicht. Da ist doch keine Apfelstraße. Wo soll die denn da sein?“
„Natürlich ist sie da. Das ist die bei der Badeanstalt ...“
„Der Herr hat Ihnen nicht richtig Bescheid gesagt“, bemerkt Kufalts Nachbar, „Holstenstraße müssen Sie aussteigen. Die Apfelstraße ist da gleich ...“
Ein kleiner Dicker entscheidet: „Der Herr hat recht. Und der Herr hat auch recht. Es gibt nämlich eine Apfelstraße in Altona und eine in Hamburg. Zu welcher wollen Sie denn?“
„Mir ist gesagt worden, Hamburg.“
„Dann müssen Sie also bis Berliner Tor fahren, Hauptbahnhof umsteigen.“
Stille herrscht.
Plötzlich fängt Kufalts Nachbar neu an: „Wo wollen Sie denn da hin in der Apfelstraße? Man sagt das so hin, Hamburg, und nachher ist doch Altona gemeint.“
„Bitte, der Herr hat gesagt, Hamburg, also muß er auch Berliner Tor raus.“
„Ist Ihnen denn ausdrücklich gesagt worden: Hamburg? Oder nur so hin?“
„Ja, ich weiß doch nicht. Ich will zu Verwandten.“
„Und wie haben Sie denn geschrieben an die Verwandten: Hamburg oder Altona?“
„Ja – ich habe nie selbst geschrieben. Das hat jemand für mich gemacht – meine Mutter.“
Der Nachbar hat ein pickliges Gesicht und blinzelnde Augen. Außerdem riecht er schlecht, wenn er sich so nah zu Kufalt beugt.
„Du willst doch – dahin?“flüstert er.