Was den Mythos Bayern ausmacht
Es gibt Menschen, die denken auch heute noch, der ganze Freistaat bestehe aus Bergen, Wäldern, Seen und Märchenschlössern. Woher kommt dieses idyllische Bild? Es hat natürlich viel mit König Ludwig II. zu tun. Vor allem aber mit den Malern der Romantik
Ettal Es ist einer der jährlichen Sommeraufenthalte der königlichen Familie in der zauberhaften Bergwelt der Ammergauer Alpen. Die beiden Wittelsbacher Prinzen Ludwig und Otto schauen einem Oberammergauer Schnitzer zu, wie er Holzsoldaten fertigt. Der halbwüchsige Otto freut sich sehr über die kleinen Holzfiguren, die ihnen der Handwerker schließlich schenkt. Ludwig aber, der kunst- und musikbegeisterte große Bruder, kann damit wenig anfangen. Er fragt den Holzschnitzer, ob er auch einen Schwan schnitzen kann – neben dem Pfau sein Lieblingstier. Faustgroß wird der spontan angefertigte Vogel, hübsch anzusehen. Der Kopf ist ein bisschen unförmig, der Schnabel ein bisschen kurz – egal.
Jetzt steht das Geschenk in einer Vitrine der Bayerischen Landesausstellung, die am Mittwoch in Kloster Ettal eröffnet wird. Und kaum ein Ausstellungsstück symbolisiert den Titel der Schau so sehr wie dieser kleine Schwan aus Holz, entstanden in der Bergwelt, für den Fantasten Ludwig: „Wald, Gebirg und Königstraum – Mythos Bayern“.
Was aber ist dieser Mythos Bayern? Ausstellungsmacher Richard Loibl, Direktor des Hauses der Bayerischen Geschichte mit Sitz in Augsburg, mit einem Erklärungsversuch: Mythos, sagt er, bedeutet zunächst nur so viel wie „Erzählung“. Und: „Sie muss noch nicht einmal wahr sein, weil Mythos auch Märchen meinen kann.“Bayern – ein Märchen? Das vielleicht auch.
Die Geschichtsschau im Südflügel des Klosters spürt ein halbes Jahr lang auf 1500 Quadratmetern dem hinterher, was Bayern ausmacht. Den Mythen und den Fakten. Hier erzählen die Bayern sich selbst und allen anderen ihre Geschichte. Und erklären, wie das idyllische Bild ihrer Heimat entstanden ist. Und der Sonderstatus, den dieser Landstrich im Süden der Republik hält.
Denn bis 1989 hieß von den deutschen Ländern nur Bayern Freistaat. Bayern signalisiert damit eine herausgehobene Stellung, obwohl es nach der deutschen Verfassung ein Bundesland ist wie jedes andere, sagt Loibl. Trotzdem nimmt sich Bayern Sonderrechte heraus, eine eigene Außenpolitik zum Beispiel. Für diesen Sonderstatus gibt es eine ungeschriebene Legitimation: das Bewusstsein, etwas Besonderes zu sein. Oder, wie es Karl Valentin formuliert: „Ich bin ja auch kein Mensch. Ich bin Bayer.“
Für den Vorzeige-Bayern Markus Wasmeier, der wie sein Vater eigentlich Holzschnitzer werden wollte, aber dann Abfahrtsrennen gewann, beinhaltet der Mythos Bayern vieles: die Landschaft, den Wald, die vier Jahreszeiten, die Tracht, die Lebensart, vor allem aber die Menschen mit ihren unterschiedlichen Dialekten. „Das alles ist Heimat“, sagt Wasmeier, der in seinem Museumsdorf in Schliersee Tradition, Kultur und altes Handwerk pflegt. „Und Heimat ist dort, wo man sich wohlfühlt, wo man dazugehört“, sagt der 54-Jährige – „der Sehnsuchtsort aller Menschen“. Nicht umsonst wollen viele gern in Bayern leben, nicht umsonst wächst die Bevölkerung hier – im Gegensatz zum Rest der Republik – jährlich um mindestens ein Prozent.
Markus Wasmeier, der als Holzbotschafter den Pavillon der Landesausstellung eröffnet, trägt an diesem Nachmittag seine kurze Lederhose, die Wadlstrümpfe, die Trachtenjoppe. So wie immer. Und im Souvenirladen an der Ettaler Zufahrtsstraße gibt es all den Bayern-
den sich der Japaner, der Amerikaner oder der Berliner gerne in den Koffer packt: Schneekugeln mit Schloss Linderhof, König Ludwig auf Tassen, T-Shirts, Schnapsgläsern und Kühlschrankmagneten, Teddybären im Dirndl und Bier aus der Klosterbrauerei.
Ist dieser Mythos Bayern vielleicht nur ein Klischee? Das kitschige Bild eines Landstrichs, der in der Außenwahrnehmung häufig ganz und gar aus Bergen, Gebirgswäldern und Seen besteht, in dem sich komische Einheimische in Dirndl und
bewegen, die ihre eigene Sprache sprechen und merkwürdige Bräuche pflegen? „Der Mythos entsteht tatsächlich in und um die bayerischen Alpenlandschaften“, sagt Historiker Richard Loibl. Bis ins 18. Jahrhundert hinein wird diese Landschaft aber wenig geschätzt. Auch der Wald nicht. Er ist für die Menschen nur Wirtschaftsfaktor. Weil sie Holz zum Heizen, zum Bauen, zum Schnitzen brauchen. „Der Bayer geht auch heute noch ins Holz – und nicht in den Wald“, sagt Loibl. Der Wald ist damals unKitsch,
zugänglich, die Alpen sind gefährlich. Nur die Not treibt die Menschen hoch auf die Berge, wenn der Wald unten nicht mehr genügend Holz liefert. Kein Mensch kommt zu der Zeit auf die Idee, freiwillig und spaßeshalber in den Bergen rumzulaufen.
Erst die Naturforscher des 18. Jahrhunderts führen Mensch und Natur zusammen. Joseph Naus, Vermessungsbeamter in bayerischen Diensten, wagt sich 1820 als Erster auf die Zugspitze und markiert mit seinem Sacktuch den GipLederhose
fel. Mit den Forschern und Wissenschaftlern kommen die Maler der Romantik. Sie setzen sich vor die Bergkulisse, in die freie Natur – und malen Himmel, Wolken, Berge, Seen. Damit konstruieren sie Ende des 19. Jahrhunderts den Mythos Bayern. Die Romantiker sehen im Alpenraum eine urwüchsige, unversehrte und wilde Landschaft, mit einer Bevölkerung, die von den Heimsuchungen der Industrialisierung verschont geblieben ist. Lovis Corinth, Carl Spitzweg oder Hubert von Herkomer, Franz Marc, August Macke oder Gabriele Münter: Sie alle versuchen sich an Bayern oder ziehen sogar wegen der Motive hin. Lovis Corinth berichtet, dass ihm die Landschaftsbilder förmlich von der Staffelei gerissen werden: „Jeder Berliner wollte so ein Bild aus jener bayerischen Gebirgsecke besitzen.“
Die Gemälde bringen Bayern in die Galerien der Welt, auf die Weltausstellungen und über Postkarten millionenfach in die Haushalte. „Bis heute haben wir die dadurch geschaffenen Bildwelten vor Augen, wenn wir an die Alpen denken“, sagt Loibl. Und dass dieses gängige Bayernbild eine super MarketingStrategie ist, die noch immer funktioniert. Dieses Bild prägen auch der damaligen Bestsellerautor Ludwig Ganghofer mit seinen Heimatromanen. Die Macher der Oberammergauer Passionsspiele. Und der Märchenkönig. Von ihm können die Menschen in Bayern und der ganzen Welt gar nicht genug bekommen. „König Ludwig II. setzte mit seinen Bauten dem Ganzen die Krone auf“, sagt Richard Loibl. Schloss Neuschwanstein, Schloss Linderhof, Schloss Herrenchiemsee oder das Königshaus am Schachen – diese Gebäude vollenden den Mythos. „Es ist schade, dass er nicht weiterbauen konnte“, sagt Markus Wasmeier, „sonst wäre ganz Bayern heute Weltkulturerbe“.
Alles, was Ludwig errichtet hat, vor allem aber: alles, was er im Kopf hatte, präsentiert die Landesausstellung in einem Holzpavillon im Klostergarten. König Ludwig im Hermelin, Neuschwanstein, daneben ein Schwan und sanft rieselnder Schnee. Ein riesiges Banner umgibt den Pavillon, der aussieht wie eine überdimensionierte Schneekugel.
„Heimat ist dort, wo man sich wohlfühlt und wo man dazugehört.“Skirennläufer Markus Wasmeier
„Das gängige Bayernbild ist eine super Marketing Strategie.“Historiker Richard Loibl
Außen Klischee vom Feinsten und innen die Bergwelt, die Ludwig mit seinen Plänen verschönern will. Er hat das Paradies entdeckt und beginnt, es zum Idyll zu formen. Hätte Ludwig keine Geldnöte gehabt und wäre er nicht tragisch ums Leben gekommen, wäre eine Art Schlösserpark entstanden. Eine Theaterlandschaft. Ein Gesamtkunstwerk vielleicht. Oder einfach nur eine Übertreibung, wie Richard Loibl sagt. Mithilfe von Skizzen, Filmen, Spiegeln und Animationen kann man die gebauten und die ungebauten Träume des Märchenkönigs virtuell erleben. Die beiden großen Projekte zum Beispiel, die der König vom Plansee bis Kloster Ettal verwirklichen will. Ein chinesischer und ein byzantinischer Palast sollen aus der Landschaft wachsen. Doch der König stirbt zu früh.
Ludwigs reale Fantasien werden 1886 – kurz nach seinem Tod – für die Besucher geöffnet. Um ihn als Spinner abzutun nach dem Motto „Da geht’s rein, dann seht’s, wie euer Geld zum Fenster rausgeschmissen wurde“. Es funktioniert nicht, ganz im Gegenteil. Es setzt eine Bewunderung für den König ein, die ungebrochen ist. Ausgerechnet der zurückgezogene Monarch wird zum Liebling der Massen. So hat eins der ersten deutschen Tourismus-Werbeplakate nach 1945 als Motiv Schloss Neuschwanstein aufgedruckt – als Symbol für das andere, das bessere Deutschland. Und so kommen noch heute jedes Jahr rund 1,5 Millionen Besucher allein zum Märchenschloss im Allgäu. Wo sich – wie in den anderen Schlössern auch – überall des Königs Lieblingstier wiederfindet: der Schwan, den er sich schon als Kind vom Holzschnitzer gewünscht hat. Schwäne zieren die Gemälde, die Kronleuchter, das Porzellan. Selbst auf der Brieftasche, in der Ludwig die Briefe Richard Wagners aufbewahrte, schwebt ein Schwan.