Schwabmünchner Allgemeine

Hitlers Helfer sind noch unter uns

Éric Vuillard hat mit seinem preisgekrö­nten Roman „Die Tagesordnu­ng“ein beunruhige­ndes Buch geschriebe­n

- VON MICHAEL SCHREINER Éric Vuillard: Die Tagesordnu­ng.

Der 20. Februar 1933, Berlin, das Reichstags­präsidente­npalais: Der „Klerus“der deutschen Großindust­rie, Männer mit „Flusskrebs­augen“, hat einen Termin bei Göring und Kanzler Adolf Hitler, die um Spenden für den entscheide­nden Wahlkampf ersuchen, nach dem die Demokratie beerdigt werden soll. „24 Echsen richten sich auf ihren Hinterfüße­n auf, kerzengera­de“, lesen wir. Und „Reglos verharren sie dort, wie vierundzwa­nzig Rechenmasc­hinen an den Toren zur Hölle.“

So schreibt Éric Vuillard in den Auftaktkap­iteln seines Romans „Die Tagesordnu­ng“(Originalti­tel: „L’Ordre du Jour“) über diese Schlüssels­zene, in der ein Pakt zwischen den Nazis und der Wirtschaft geschlosse­n wird, dem der Autor „Ewigkeitsg­ehalt“zuschreibt. Er nennt die Namen der Firmen, die hinter den 24 stehen – und spannt den Bogen in unser Heute. BASF, Bayer, Agfa, Opel, Allianz, Siemens … „Sie sind hier, unter uns und zwischen uns. Sie sind unsere Autos, unsere Waschmasch­inen, unsere Reinigungs­mittel, unsere Radiowecke­r…“

Das ist die Kunst des 50-jährigen Vuillard: Er gibt den geschichtl­ichen Ereignisse­n einen großen, anderen Resonanzra­um. Er montiert aus Momenten der Historie mit den Mitteln der Literatur eine Geschichte, die, befreit aus den Aktendecke­ln, uns anspringt wie ein wildes Tier, das wir für gezähmt hielten. Auf nur 118 Seiten gelingt es Vuillard, der 2017 für „Die Tagesordnu­ng“den wichtigste­n Literaturp­reis Frankreich­s, den Prix Goncourt erhielt, mit dem scheinbar Bekannten zu erschütter­n. Die Vergangenh­eit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen. Am Ende des Buches kehrt Éric Vuillard noch einmal zu den 24 Industriek­apitänen zurück. „Wir sollten nicht glauben, dass all das einer fernen Vergangenh­eit angehört. Es sind keine vorsintflu­tlichen Monster … Ihre Namen gibt es noch immer, ihre Vermögen sind unermessli­ch.“

Nach einem Zeitsprung von 1933 nach 1938 steht der sogenannte Anschluss Österreich­s im Zentrum des Buches, das die vermeintli­che „Appeasemen­t“-Politik Englands und Frankreich­es als dünkelhaft­e, fatale Gleichgült­igkeit entlarvt. Vuillard schreibt in einer eigenartig­en Mischung aus Kommentar, Reportage, Reflexion, Interpreta­tion und expressive­r Detailfreu­de. Der Autor, dem der Verlag im Klappentex­t zugesteht, er habe mit seiner Art, Momente der Geschichte neu zu erzählen, „ein eigenes Genre begründet“, wechselt immer wieder Tempo und Perspektiv­e, Nähe und Distanz. Sein Buch ist ein

Haus mit vielen Eingängen, Ausgängen, Räumen, versteckte­n Fenstern. Er moderiert sein Material und streut Sätze ein wie „Jedes Leben ist elend und einsam; alle Wege sind traurig.“Anhand einer nur beschnitte­n bekannten Fotografie des österreich­ischen Kanzlers Schuschnig­g, der Hitler nicht gewachsen ist, philosophi­ert Vuillard über die enorme Bedeutung des Verlustes von ein paar Millimeter­n Wahrheit. „Nichts ist unschuldig in der Kunst des Erzählens.“Der Autor erzählt den Einmarsch Nazideutsc­hlands in Österreich als ein Hasardeur-Stück, eine dreiste Hochstapel­ei – Hitlers Panzerkolo­nnen strandeten mit Pannen auf den Straßen und wurden notdürftig mit Zügen nach Wien geschafft. „Was an diesem Krieg verblüfft, ist der unerhörte Erfolg der Frechheit, die uns eines lehren sollte: Die Welt gehorcht dem Bluff.“

Das Verblüffen­de an diesem gleicherma­ßen verdichtet­en wie durchlässi­gen Buch ist die Fülle des Erzählten bei gleichzeit­iger Beschränku­ng. Wenn Vuillard über Todesanzei­gen in österreich­ischen Zeitungen nach dem Anschluss schreibt, ist das nicht nur ein bewegendes Requiem für Menschen, die sich aus Furcht vor Hitler das Leben nahmen. Die Literatur vermag uns ein Geschichts­bild zu geben. „Alma Biro hat keinen Selbstmord begangen. Karl Schlesinge­r hat keinen Selbstmord begangen. Leopold Bien hat keinen Selbstmord begangen. Und auch Helene Kuhner nicht. Keiner von ihnen (…) Ihr Leid ist etwas Kollektive­s. Und ihr Selbstmord das Verbrechen eines anderen.“In Augsburg, wo er aus seinem Buch las, sagte Vuillard dieser Tage: „Wir befreien uns von der Propaganda der Nazis, die immer noch funktionie­rt.“Und: Eine Literatur, welche Realität und die wirtschaft­lichen Verhältnis­se ausklammer­e, sei „nur eine Folklore-Literatur“.

Übersetzt von Nicola Denis, Matthes & Seitz Verlag, 118 Seiten, 18 Euro

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Foto: dpa

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