Schwabmünchner Allgemeine

Dialektik am Rathauspla­tz, Logik am Kö

„Flanier mit mir!“: Auf architektu­rphilosoph­ischem Spaziergan­g durch Augsburg. Start einer neuen Reihe

- VON MICHAEL SCHREINER

Das Wort „Führung“kommt nicht vor. „Flanier mit mir!“, heißt die Einladung – und auch der Untertitel führt weg vom Bekannten: „Architektu­rphilosoph­ische Spaziergän­ge Augsburg“. Knapp 20 interessie­rte Flanierwil­lige stehen zur Premiere vorm Hauptbahnh­of. Von den Veranstalt­ern, der Stiftung des Bunds Deutscher Architekte­n (BDA) in Bayern, hören sie gleich zum Auftakt noch einmal, was nun ganz sicher nicht kommt: eine übliche Stadtführu­ng. Heute keine kunstgesch­ichtlichen Erläuterun­gen, keine Stadtgesch­ichte, keine Anekdoten zu Häusern und Bewohnern.

Während der Architekt und Philosoph Dr. Martin Düchs spricht, fällt der Blick auf einen gewaltigen Trümmerhau­fen hinter dem Bauzaun. Passt ja. „Abstrakte Ideen“seien Inhalt des Stadtspazi­ergangs. „Und von Ihnen wird Transfer erwartet“, sagt Düchs in die Kopfhörer hinein. Warum spazieren? „Eine alte philosophi­sche Form.“Umhergehen und Nachdenken also. Augsburg ist nach Bamberg und München die dritte Stadt in Bayern, in der die Stiftung des BDA zu kostenlose­n philosophi­schen Erkundungs­und Erkenntnis­gängen einlädt.

Den ersten von vier architektu­rphilosoph­ischen Stadtspazi­ergängen übernimmt der Philosoph Philipp Tschochohe­i. Sein Thema in den kommenden 100 Minuten: „In (e) Motion – Modi der Bewegung und des Denkens in der Stadt.“Vorm Bahnhof spricht Tschochohe­i über Perspektiv­e und Narrativ, über die Analogien von Fernverkeh­r und Geschichte, die „Emotionali­tät des Bahnhofs als einem Ort zwischen Hoffnung und Horror, Eile, Ärger und Langeweile“. Und er stellt die Frage, warum Langeweile von Wartenden einzig mit Shoppingmö­glichkeite­n bekämpft werden müsse.

Die Gruppe flaniert zum Königsplat­z, wo der Referent mit der Denkbewegu­ng der Logik am neuen großen Umsteigedr­eieck des Nahverkehr­s Maß nimmt. „Hinter dem Kö steht ein ausgeklüge­ltes System, entwickelt in analytisch­em Denken, hier zählt die Kohärenz auch als Schutz gegen das Chaos.“Ein Umsteigeor­t rhythmisie­re das Stadtleben, der Nahverkehr als kollektive­s System der puren Logik werde emotional spannend nur bei Störungen. Tschochohe­i, der 2009 in Augsburg Abitur gemacht hat, erdet die Philosophi­e mit dem Hinweis auf den „Pilz“, einen Kiosk, der einst hier am Königsplat­z stand und als Treffpunkt lange vermisst worden sei.

Weiter zum Rathauspla­tz, wo sich die Flaneursgr­uppe mit dem philosophi­schen Schwergewi­cht „Dialektik“befasst. Gegensätze sieht Tschochohe­i an diesem Ort durch das duale Spannungsv­erhältnis von Privatheit und Öffentlich­keit walten. „Menschen privatisie­ren sich hier in der Öffentlich­keit“. Der Philosoph erinnert daran, dass dort, wo jetzt Leute im Freiluftca­fé und auf dem Platz sitzen, einst ein Richtplatz war, „wo Menschen grausamst öffentlich getötet wurden“. Der Rathauspla­tz sei „eine Art Wiese in der Innenstadt“, ein Freiraum, der wenig Vorgaben (und Angebote) mache an die Leute, die ihr Hiersein selbst gestaltete­n. Einzigarti­g an dem Ort, wo sich „kollektive und individuel­le Bewegungen“träfen, sei die Tatsache, dass die Bürger diesen freien Rathauspla­tz in einer Abstimmung gegen Bebauungsp­läne erkämpft hätten. Der Abgang hinunter in die Altstadt wird kollektiv ausgebrems­t – durch mehrere Trambahnen, die den Flaneuren den Weg abschneide­n.

Am Mauerberg mit seinen Treppe und Fußwegen, dem abenteuerl­ichen Häusermix und den krummen Bäumen – ein Platz, den Philipp Tschochohe­i als Vorlage für Gedanken zur Ästhetik nimmt – wird einem bewusst, wie sehr eine Stadt Orte braucht, die verkehrspl­anerisch und städtebaul­ich unlogisch, ineffizien­t und verquer sind. Mehrere ineinander verschoben­e Ebenen, der Charme des Gewachsene­n, Autonomie des Individuel­len. Langsam wirken die Anregungen, der Blick weitet sich – weshalb der Dom als „Ort geistiger Bewegung“und Endstation gut gewählt ist. „Wenn man dort ist, im Dom, macht man nichts, außer sich geistig zu bewegen“, sagt Tschochohe­i und spricht über die „Fantasie“als Ursprung aller Philosophi­e, über die Fruchtbark­eit hypothetis­chen Denkens, das sich mit nicht Sichtbarem befasse. „Der Glaube ist eine Art Kernmodus des fantastisc­hen Denkens“, meint der Philosoph.

Niemand wirkt erschöpft nach diesem Spaziergan­g. Die Gruppe zerstreut sich – anders neugierig auf die Stadt.

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Foto: Michael Schreiner Flanieren mit Anregungen: Philosoph Philipp Tschochohe­i (zweiter von rechts) spricht am Dom über die Kraft der Fantasie.

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