Wie eine Schicht wird, weiß man vorher nie
Kleine und große Dramen, Ruhestörungen, Gewalt. Die Polizisten des Innenstadtreviers sind ständig gefordert und müssen überdurchschnittlich viele Einsätze fahren. Unser Reporter war eine Nacht lang dabei
Der Anruf klingt dramatisch. Eine Frau wird in einem Auto vergewaltigt, so sagt es zumindest eine Augenzeugin. Möglich, dass das stimmt. Möglich auch, dass nicht. „Schauen wir mal, was rauskommt“, sagt Stefan Schwendner, ein Polizist, der an diesem Freitag Nachtschicht im Innenstadtrevier in der Frölichstraße hat. „Vielleicht haben da zwei einfach nur Sex.“Später wird sich herausstellen, dass es wohl tatsächlich so war, wie Schwendner es vermutet. Aber überprüfen müssen die Beamten den Fall natürlich erst einmal, und zwar schnell. „Da fährt jetzt halb Augsburg raus“, sagt Sandra Mayer, die mit Schwendner zusammen im Funkraum sitzt, Anrufe entgegennimmt, Einsätze koordiniert.
Sandra Mayer ist Dienstgruppenleiterin. Sie wird im Laufe dieser Nacht ständig telefonieren, Gespräche mit den Polizisten ihrer Dienstgruppe führen, ihre Einsatzberichte lesen, rasche Entscheidungen treffen müssen und jede Menge Kaffee und einen Espresso trinken. Auch wenn sie nicht den Eindruck macht, müde zu sein. Zum Anfang der Schicht allerdings ist die Lage noch eher ruhig. Einen Raum weiter bereiten sich die anderen Polizisten, die Dienst haben, auf die Nacht vor; sie überprüfen Funkgeräte, besprechen sich, was ansteht. Sie sind fast alle sehr jung, Anfang, Mitte 20 vielleicht.
Überhaupt arbeiten bei der „PI Mitte“, wie das Revier im Polizeijargon heißt, sichtbar viele Beamte in diesem Alter. Das hängt mit den besonderen Bedingungen eines Polizeireviers in der Innenstadt zusammen: das Nachtleben in der Maxstraße, Demonstrationen, viele Veranstaltungen. Ein Dienst kann Dauerstress bedeuten, den man auch körperlich wegstecken muss. Stefan Schwendner, den hier alle nur „Schwendo“nennen, ist einer der wenigen Beamten über 50. Einer der jüngeren Polizisten war zuvor in Nürnberg und München in der Innenstadt im Einsatz. „Ich merke eigentlich keinen Unterschied“, sagt er. „Es sind alles Ballungszentren.“
In Zahlen ausgedrückt: Für das Jahr 2017 sind in der Polizeistatistik im Bereich des Augsburger Großstadtreviers rund 17000 Delikte erfasst. Für die anderen vier Reviere in den umliegenden Stadtteilen liegt diese Zahl jeweils deutlich darunter, zwischen 4000 und 9000. „Es ist viel los“, sagt Benjamin Drewes, der seit dreieinhalb Jahren hier arbeitet. Er ist einer der Polizisten, der mit einer Bodycam ausgestattet ist, eine kleine Uniformkamera, die Beamte einschalten, wenn es zu brenzligen Situationen kommt. Das Innenstadtrevier war im vergangenen Jahr Teil eines Pilotprojektes im Freistaat, als eine von sieben Dienststellen. Die Inspektion war auch deshalb dabei, weil Polizisten hier gefährlicher leben als viele andere Streifenbeamte in Bayern. Wer sich unter den Polizisten umhört, bekommt aber weder Schauergeschichten noch Heldensagen erzählt. Klar gebe es manchmal brenzlige Situationen, sagt einer. Aber als bedrohlich empfinde er die Arbeit eigentlich nicht. Auch Drewes sagt, dass es ihm hier gefällt. Die Kollegen seien überwiegend jung, man mache auch mal privat etwas zusammen. Um kurz nach 20 Uhr kommt einer der Polizisten gerade von einem Einsatz zurück in den Funkraum. „In der Maxstraße bahnt sich schon was an“, sagt er. Das Wetter ist gut, auf den Straßen ist jede Menge los. Sandra Mayer lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. „Ja, kann eine tolle Nacht werden“, sagt sie. Das Leben in der Inspektion spielt sich zur Schicht im Erdgeschoss ab. Im Funkraum, im Großraumbüro, im Sozialraum mit Kaffeemaschine und im Eingangsflur, in dem eine Holzbank steht, auf der im Laufe der Nacht immer mal wieder Menschen Platz nehmen dürfen – oder müssen. Ein flüchtiger Ladendieb. Ein junger Mann, der womöglich Drogen dabei hat. Oder ein Mann aus Eritrea, den die Bundespolizei ohne Fahrkarte am Hauptbahnhof aufgegriffen und dann an die Kollegen der Landespolizei abgegeben hat. Er will wohl Asyl beantragen. Nur ist das schwierig herauszufinden. Er spricht kein Deutsch, kein Englisch, kein Französisch. „Er spricht Tigrinya“, sagt Sandra Mayer. So viel lässt sich sagen. Mayer ruft einen Dolmetscher an, der am Telefon mit dem Mann aus Eritrea klärt, was dieser eigentlich vorhat. Er will tatsächlich Asyl beantragen, also organisieren ihm die Polizisten ein Bahnticket nach Donauwörth, wo die Erstaufnahmeeinrichtung steht.
Auf den Computer-Bildschirmen im Funkraum werden die Einsätze angezeigt, die aktuell oder abgeschlossen sind. Rot markierte Einsätze laufen noch, schwarze sind erledigt. Ab 22 Uhr sieht man auf den Bildschirmen viel rote Farbe – und mit Ausnahme von Sandra Mayer und Stefan Schwendner kaum noch Polizisten auf dem Revier. Teils sind alle Streifen unterwegs. Es ist keine überdurchschnittlich stressige Schicht, aber es ist auch nicht so, als wäre gar nichts los.
Das Ordnungsamt kontrolliert Shisha-Bars und braucht die Unterstützung der Polizei. Anwohner in der Maxstraße und andernorts melden Ruhestörungen. Ein Mann hat seine Freundin auf offener Straße verprügelt, erschrockene Zeugen rufen an, die Polizei macht sich auf den Weg. Doch die Frau will nicht aussagen, sich nicht helfen lassen. Es
Eine Frau wird geschlagen, doch sie will keine Hilfe
ist einer der wenigen Momente in der Nacht, in denen Sandra Mayer etwas ratlos wirkt. Sie legt den Telefonhörer hin. „Der wurde alles angeboten“, sagt sie dann. „Frauenhaus, alles, und wir können nichts machen.“Man merkt, dass ihr das nicht gefällt: nichts machen zu können. Sandra Mayer, 44, ist seit 25 Jahren Polizistin. Eine erfahrene Beamtin, die sagt, was sie denkt, und gegenüber ihren Kollegen, deren Vorgesetzte sie ist, einen lockeren, aber verbindlichen Ton trifft.
Ein Einsatz droht heikel zu werden. In der Georgenstraße soll ein alkoholisierter Mann gegen Straßenschilder schlagen. Als die Polizisten vor Ort sind, versucht er zu flüchten und wird aggressiv. Nach dem Einsatz telefoniert Sandra Mayer mit einem der Streifenbeamten, sie klingt besorgt. „Ist einer verletzt von uns? Soll ich einen Arzt rufen?“Einer der Polizisten hat tatsächlich etwas abgekommen, es ist allerdings nur ein Kratzer am Arm. Ein Arzt wird nicht gebraucht, der Mann kann weiterarbeiten.
Wie eine Schicht wird, das lässt sich vorher nicht sagen, berichtet einer der Polizisten. Manchmal gehe es an einem Donnerstagnachmittag hektisch zu, manchmal sei ein Wochenendtag wieder überraschend ruhig. So ist es auch in dieser Nacht von Freitag auf Samstag, mit Ausnahme der Zeit zwischen 22 und 24 Uhr, in der mehr los ist. Danach: ein paar Ruhestörungen noch, ein paar Kontrollen. Keine großen Dramen, nicht in dieser Nacht.